Margret & Ossana - Georg Freiherr von Ompteda - ebook

Margret & Ossana ebook

Georg Freiherr von Ompteda

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Opis

"Die Tage gingen hin in ewiger Himmelsbläue; wärmer wurde es und wärmer. Fort waren die Fremden, die Meran besuchten, um im Sonnenlande Gleichgewicht der Seele zu finden und Ruhe für die von Arbeit und Unrast der großen Stadt erregten und gepeinigten Nerven. Die Villen, die Pensionen, die Hotels, eines nach dem anderen schloß die wintermüden Fensterläden. Meran begann den Meranern wieder zu gehören. In St. Valentin, in Trauttmannstorff, in den Gilfanlagen saßen andere Menschen. Die Eingesessenen: Geschäftsleute, Beamte, Alternde im Ruhestand. Dazu Grundbesitzer und Bauern, von den Nachbarorten und Tälern hereingekommen zu Handel, Geschäft, Trunk und Rast." Georg von Ompteda (1863-1931) war ein deutscher Schriftsteller.

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Georg Freiherr von Ompteda

Margret & Ossana

e-artnow, 2018

INHALTSVERZEICHNIS

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

KAPITEL 1

Inhaltsverzeichnis

Graf Meinhardt zu Aich spähte zum Fenster des Abteils hinaus. Da – zwei Gestalten, ein junges Mädchen in Schwarz, daneben ein Ulan, dem aus dem Mantel die drei Kragensterne des Rittmeisters lugten. Im Augenblick darauf umarmten sich die Geschwister. Das Henrietterl, wie Gräfin Henriette zu Aich genannt wurde, untergehakt, ging er dem Ausgange zu, während der Offizier sich um das Gepäck kümmerte.

»Das Telegramm kam zu spät. Unter einer Woche kann man von Amerika nicht herüberkommen! Und nun, wo Papa nicht mehr ist, scheint's mir doch, als wären diese ganzen – wie lange ist es? – sieben Jahre ein Unsinn gewesen. Aber er hat's so gewollt, ich hab' nicht anders können! Wie geht dir's Henrietterl?«

Sie sah ihn an mit ihren ewig lächelnden Augen: »Ah, sehr gut!«

Er kehrte zu seinem Vater zurück: »Der arme Papa, hat er sich denn gequält?«

»Nein, wie man hört, nicht.«

»Bist denn nicht dabei gewesen?«

»Es geschah zu plötzlich. Er hatte ja schon einen Schlaganfall gehabt, nun kam der Herzschlag noch hinzu.« »Und der Poldi?«

»Ah, der ist ja erst zur Beerdigung gekommen!« »Aber du hast den Papa doch noch gesehen?« »Ossana ist mit mir hin.«

Graf Meinhardt blieb stehen: »Wie ist denn seine Frau?«

»Der Papa war ja schon unten am Friedhof!« »Also auf der Rochusburg bist nicht gewesen?« Ihre Augen flammten: »Wo denkst denn hin?« Als sie im Fiaker saßen, zu dritt, sagte der Älteste, indem er den Hut hob und sich bei der ungewohnten Wärme des Märztages die Stirn tupfte: »Ich fahr' heut nachmittag hinauf.« »Das muß das erste sein.« »Sagen wir das zweite. Erst geh' ich zum Friedhof.«

Auf der Fahrt zum Palasthotel sprach der Rittmeister mit seiner Schwester über allerlei Veränderungen, die in Meran, in den Jahren, da auch er nicht in der Heimat gewesen, vor sich gegangen waren: Neubauten, Pflanzungen, Platzerweiterungen, Läden. Graf Meinhardt blieb stumm. Sie bogen aus der Habsburgerstraße beim Theater über die Passer. Drüben sahen sie die Promenade mit ihren alten, noch winterkahlen Bäumen, unter denen in der Sonne die Menschen auf und ab schritten oder saßen. Während sie beim leisen Rauschen des Wassers am Riesenkasten des »Grand Hotel Meraner Hof« hinfuhren, klangen die Weisen des Kurorchesters herüber. Die beiden anderen plauschten. Meinhardt starrte auf das alte Städtchen da drüben mit seinem neuen Kleide von Kuranlagen und Hotels, auf das köstliche Gemisch bäuerisch-bürgerlich verträumten Mittelalters und neuesten Fremdenbetriebes, darüber am Küchelberg stand wie ein mächtiger Wächter aus der Römerzeit der Pulverturm.

Während Graf Meinhardt sich umkleidete, wartete das Henrietterl in der Halle des Hotels, doch das Umziehen dauerte lange, die Brüder halten einander viel zu sagen.

»Poldi, hast du den Papa auch nicht mehr gesehen?«

Der zuckte mit einer gewissen Leichtfertigkeit die Achseln: »Nachdem ich nicht gerufen worden bin? übrigens, Meinhardt, warum hätte denn der Papa nicht wieder heiraten sollen, nachdem er sich so einsam gefühlt hat?«

»Das Henrietterl war doch da!«

»Schau, die ist damals noch ein Kind gewesen, und kein liebes grad'! Du weißt doch die Szenen, die's mit ihr gegeben hat. Wenn er ein paar Jahr gewartet hätt', hätt' man's ihm vielleicht nicht übel genommen; freilich zu heiraten, nachdem die Mutter kaum drei Monat tot war –«

Graf Meinhardt zog den Rock an, vergrub die Hände in den Taschen und blieb – einen Kopf größer als der schlanke, fadendünne Rittmeister – breit und stark vor ihm stehen:

»Wenn ich nur damals dagewesen wär'! So was schriftlich machen, das ist nix. Aber, Teifel nochmal, wenn man in Indien sitzt, kann man nicht am andern Tag in Tirol sein, und ich bin doch damals beim Generalkonsulat in Kalkutta gewesen. Das ist das Fürchterliche am Tod, daß man nichts mehr gutmachen kann. Vielleicht ist auch bei uns viel Schuld gewesen, grab' bei mir! Ich hält' ja den Papa um Verzeihung gebeten. So oder so hätten wir uns gewiß versöhnt. Vor einer Woche noch waren alle Möglichkeiten, und ich hab' gedacht, die Jahre werden ja doch einmal die Versöhnung bringen! Und jetzt? Zu spät! Unsere liebe Mutter hat immer gesagt: Zum Haß ist Zeit, Liebe verlangt Gegenwart.«

Graf Meinhardt schwieg. Der Rittmeister ließ erst die nötige Pause verstreichen, die er, mehr Daseins- und Oberflächenmensch, doch für schicklich hielt, dann rief er in ganz anderem Tone:

»Aber das Henrietterl wartet!«

Graf Meinhardt wollte allein auf den Friedhof gehen. So lieb er die Geschwister hatte, er empfand das Bedürfnis, sich mit seinem Herzen und dem Gedächtnis an jenen, der ihm über zwanzig Jahre ein herzensguter Vater gewesen, allein auseinanderzusetzen.

Die paar Schritte vom Palasthotel zum alten katholischen Friedhof ging er zu Fuß. Nayspur im Nonstal, wo einst die Aich begraben worden, war schon seit Geschlechtern in anderem Besitz. Auf der Rochusburg, die eine Ältermutter in die Ehe gebracht, lagen nur sie und ihr Gemahl. Die Aich aber ruhten seit der Zeit auf dem Maiser Friedhofe. Er trat durch das Säulentor und ging zwischen den Gräberreihen hin, zum letzten Bette seines Vaters.

Vor dem riesigen Marmorkreuz an der Friedhofmauer zog er mit kurzem Lippengebet den Hut, aber zur Sammlung konnte er nicht kommen. Äußerlichkeiten fielen ihm auf: die Grabplatte war beschädigt; man sah noch die helle Bruchstelle von einem abgesprengten Stück – vielleicht als sie vor ein paar Tagen erst abgenommen worden, um den Sarg des Vaters hinunterzulassen, neben den seiner ersten Frau. Und mit einem Male schoß es Graf Meinhardt durch den Kopf: War es nicht erstaunlich, daß die zweite ihren Mann, der ihretwegen mit seiner Familie gebrochen hatte, hier neben der ersten Frau ruhen ließ, wo für sie einmal kein Platz mehr sein würde? Oder hatte sie keinen Widerspruch erheben können?

Alle Stimmung war dahin. Ein Lippengebet wieder, und er ging langsam davon. Im Vorüberschreiten las er ein paar Grabsteine. Namen aus seiner Kindheit dunkelten da auf den Platten, halb verwischt von Jahren und Wetter: »Edler von Rasen zum Neuenturm« – »Altbürgermeister Dr. Thaddäus Ladurner«, der grausliche Brummbär? Und die »vielbetrauerte Witwe Maria Trenkwalder?« Sie war ja schon, als Meinhardt ein Knabe gewesen, hornalt! Aber dort »Filomena Unterweger«, die Bauerntochter vom Stafflerhof, die er als Bub einst heimführen wollte, und ein Vierteljahr darauf glühte sein Herz doch schon für eine andere? Alte Zeiten! Seltsames, kurzes Menschenleben!

Er stand am Ausgang. Ein weißhaariges Weib drückte, über ein Grab gebeugt, mit dürren Armen, an denen die Adern wie Stränge lagen, die Erde fest. Im Vorübergehen las Graf Meinhardt den Namen: »Freifrau Durazzi von Paternell«, und sofort klang es ihm weiter in den Ohren: »geborene Katzenpecken von Pergamatsch.«

Da standen vor seinen Augen die Durazzi, bei denen das Henrietterl nun das achte Jahr schon weilte, seitdem es wegen der zweiten Frau die Rochusburg verlassen. Er sah die Schwestern vor sich in halblangen Kleidern, noch eckig, kindlich aneinander gelehnt, wie sie ihn anblickten und in erwachender Jungfräulichkeit die Augen niederschlugen. Die lustige Ossana mit ihrem klangvollen Namen, ursprünglich das »Ossana« (Hosianna) der Schrift. Der alte Baron Durazzi hatte ihn den Familienpapieren entlehnt, darin er abends, die Hornbrille vor den Augen, vergangene Herrlichkeit seines Geschlechtes aufleben ließ. Margret war verschlossen, ernst und still. Und in dem Heimatlosigkeitsgefühl, das heute des Heimgekehrten Herz erzittern ließ, erschien es ihm wie ein Ruhepunkt, das alte Göllan da drüben, mit seiner efeuumsponnenen Nordwand, mit dem engen Wirtschaftshof, mit der gewiß schon seit Jahrhunderten schief geneigten Treppe, die unter dem Säulendach emporführte in den weiträumigen Flur.

Da beeilte er seine Schritte, als warteten seiner die lieben Jugendgespielinnen: gleich wollten sie hinüberfahren, gleich! Er schüttelte den Gedanken ab an das Grab, und seine Seele sprach: »Ich komme wieder zu dir, Vater, wenn alle Mißtöne verklungen sind.«

Da empfing ihn auch schon der weiße, langgestreckte, neumodische Hotelbau mit den großen Spiegelscheiben. An den Palmenbeeten davor standen ein paar modisch gekleidete Damen, deren kräftige Aussprache die Norddeutschen verriet. Kurgäste, aus einer anderen Welt als die Grafen Aich von und zu Nayspur und die Freiherren Durazzi von Paternell und die Katzenpecken von Pergamatsch ...

Graf Meinhardt fragte: »Wollen wir gleich nach Göllan?«

Aus alter Gewohnheit dachte er daran, einen Wagen zu bestellen, doch die Schwester meinte: »Mit der Tram sind wir viel schneller dort.«

»Ach ja. jetzt ist ja alles anders!« Am Ruffinplatz stiegen die Geschwister ein. Durch Untermais sausten sie, an in der Südensonne schon leise wieder grünenden Wiesen zwischen Obstbäumen hin über die Etsch. Graf Meinhardt nannte dem Henrietterl die Namen aller Ortschaften und Ansitze, auf die sie selbst, die nie ihre Heimat verlassen, nicht zu achten gelernt, als ob er sie eben erst entdecke.

Im Schatten des Marlinger Berges leuchteten Höfe aus den Weingärten, und weite Kalvilleanlagen dehnten sich über weißen Stützmauern hin. Herren- und Geschäftsordnung verkündend gegen die unregelmäßig eingehaltenen Gründe der Bauern. Nun kam, vor dem vom Schlosse Braunsberg überragten Lana, der alte Ansitz Göllan in Sicht mit seinem zeitgedunkelten Holzziegeldach. Wie sie den Fußweg, dessen Stufen aus einstigen Bauteilen gebildet waren, hinaufstiegen, ward der halbe Zerfall sichtbar. Der Rundbogen des Tores war gesprungen, ein Teil der Zinnen abgedeckt, der Mörtel von der Witterung zerfressen. Durch den gotischen Treppengiebel des Hauses ging, vom zierlich gekuppelten romanischen Fenster aus, ein klaffender Riß. Reich geschmiedete Fensterkörbe in dem unteren Geschoß verrieten versunkene Herrlichkeit. Ein breiter Erker ragte auf gewaltigen Kragsteinen an der Hausecke vor, und Graf Meinhardt sah die alten Wappenscheiben hinter neuzeitlichen Fenstergläsern hängen. An der ganzen Hofseite bis zum nahen Wirtschaftsgebäude hinüber stützten Säulen das überstehende Dach. Dort lag der dunkle Eingang zur Torggel: noch immer hing die gotische Tür schief in den Angeln, als würde sie, gerade gerichtet, das Jugendbild zerstören, das Meinhardt im Gedächtnis trug. Und da führte auch die ausgetretene Treppe mit den breiten Hausteinstufen hinan, von der schon der Knabe nicht begriffen, wie sie eigentlich den Gesetzen der Schwere standhielt. Mit ein paar Sprüngen war er den beiden anderen voraus und stand oben vor dem Tor, an dem rechts und links zwei marmorne Rundbänke, poliert durch langen Gebrauch, vorsprangen. Neben dem alten geschmiedeten Glockenzuge, der, in ein Wirrsal von Drähten auslaufend, über den Hof und zum ersten Stock hinauf ging, fand sich der Druckknopf einer elektrischen Klingel schief angeschraubt. Ein kleiner, glattrasierter Mann im grauen Rock mit Zornknöpfen und grünem Kragen erschien. Doch das Henrietterl war schon vorausgelaufen in den gewölbten Flur, wo in regelmäßigen Abständen niedrige Türen mit schmiedeeisernen Klinken die gemeißelten Wände unterbrachen. Die Gräfin rief fröhlich: »Der Onkel läßt bitten!«

Dann verschwand sie im Zimmer, und man hörte sie sagen: »Ja, der Meinhardt auch.«

Sie traten ein. Der große, etwas niedrige Raum trug über alter Vertäfelung einen tapetennachahmenden Anstrich. Von der Decke, aus dem Leibe einer auf Wolken schwebenden Putte, hing ein Bronzelüster herab, der in eine mächtige, glänzende Kugel auslief. Von den Wänden schauten Familienbilder. Ihre Leinwand, vielleicht seit hundert Jahren nicht nachgespannt, schlug Wellen. Ein Lehnstuhl wartete am Fenster, mit breiten Backen den Müden zu empfangen, während am Sofaplatz den Tisch steiflehnige Sessel umstanden, so hoch, daß vor den meisten Fußbänke träumten. Um den bunt bemalten Renaissance-Kachelofen, auf gelben, wild dreinschauenden Löwen ruhend, lief eine Holzbank. Im ersten Augenblick schien nur das Henrietterl im Zimmer zu sein, bis von einem eingelegten Schreibtisch, an dessen heruntergeklappter Platte er gesessen, ein alter Herr sich erhob. Sein schneeweißer Bart war am Kinn ausrasiert, ein paar lebenslustige blaue Äuglein blinzelten den beiden Grafen Aich entgegen: »Aber schau, Meinhardt, ist das a Freud'! Na ja, der Papa – aber daß du zu spät gekommen bist ... Und da ist ja der Poldi! Laßt ihr euch auch wieder einmal anschaun? Schau, schau, Rittmeister? Der Stern ist ganz neu. Ja, ja, das ist ein Stolz, wenn man avanciert. So nun setzt's euch her und bleibt's nit wieder jahrlang aus! Du bist wohl lang gefahren. Meinhardt, von Amerika?«

»Zehn Tage!«

Der alte Baron zog ihn beiseite: »Ja, ja, 's ist traurig, so heimkehren. Aber hier find'st du immer ein Heim. Willst bei uns wohnen? Ich laß dir gleich ein Zimmer richten. Elegant nicht, aber du liebst ja alte Sachen. I mag auch das Neue nit leiden!«

Graf Meinhardt dankte: sie wohnten schon drüben im Hotel, und er müsse auch morgen hinauf nach der Rochusburg. Sie hatten sich gesetzt, im Kreise um den eingelegten Tisch, auf dem eine Zinnschüssel voll eingekniffener Besuchskarten stand.

Der alte Herr nahm rechts Meinhardts, links Poldis Hand:

»Ich hab' kein' Sohn, ich alter Esel sitz' da mit lauter Weibsbildern beinand. Aber wenn i schon ein paar Söhn' haben sollt', euch möcht i gleich!«

Doch im selben Augenblick lehnte er sich in seinen Stuhl zurück, faltete die Hände und drehte die Daumen. In der Tür erschienen zwei schwarze Köpfe mit dunklen, glänzenden Augen unter den weißen Stirnen. Wo waren die kleinen, schämigen Mädchen von einst, halbwüchsig mit kurzen Kleidern? Zwei junge Damen standen da, ruhig und selbstverständlich. Ohne die Augen niederzuschlagen, gingen sie dem Jugendfreund entgegen. Ossana, die ältere, streckte ihm die Hand hin. Dann auch Margret, die jüngere, dunkler noch, aber die Züge nicht ganz so regelmäßig. Der Rittmeister ward ein wenig wärmer begrüßt, denn sie hatten ihn vor ein paar Jahren wenigstens einmal wiedergesehen.

Das Henrietterl bat erstaunt: »Wollt ihr euch nit du sagen?«

Meinhardt betrachtete die mädchenhafte Gestalt, die eben eingetreten, in ihrem einfachen fußfreien Kleide. Er war so in Gedanken, daß er nicht antwortete, bis der alte Baron Margret bei der Hand, den Grafen beim Arm nahm und rief:

»Keine Müdigkeit vorschützen – gebt's euch a Busserl!«

Das schlanke dunkle Mädchen fiel, vom Vater hinübergerissen, Meinhardt beinahe in die Arme. Auch die andere Tochter trieb er mit dem Sohne seines einstigen Freundes zusammen. Doch zu einem Kusse kam es nicht. Der Rittmeister dagegen ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, und sein Schnurrbart berührte nacheinander die Wangen der Mädchen.

Meinhardt sagte zu Margret Durazzi: »Also darf ich von der Verwandtschaft Gebrauch machen?«

»Natürlich!«

Und doch blieben sie ein wenig steif voreinander stehen. Er betrachtete Margret noch immer. Unter Ossanas dunklen Lidern schoß ein Blick zu ihm, dem das Schwarz der Kleidung zu dem Blond seines Haares so gut stand. Inzwischen war das Henrietterl verschwunden, die Jause zu bestellen. Man setzte sich, und während der Rittmeister sich mit Ossana unterhielt, glitt Meinhardts Auge wieder über Margrets vielleicht ein wenig zu magere Gestalt mit dem engen Gürtel, um den, genau wie bei ihrer Schwester, die goldene Uhrkette gelegt war: »Wie hast du dich – ich darf ja du sagen – verändert! Ich hätt' euch nicht wieder erkannt, so groß seid ihr geworden und so schön.«

Es zuckte um ihre Augenbrauen gleich Ärger; doch mit seiner ganzen Natürlichkeit, der Schmeicheln fern lag, fuhr er fort:

»Man sieht ja ganz anders, wenn man so lang' in einer fremden Welt gewesen ist. Und doch ist's mir hier noch so vertraut, als ob ich erst gestern fortgegangen wär'. Ich hab' langen Urlaub. Den ersten, seit ich in Washington als Sekretär bin.«

Der alte Baron drohte mit dem Finger: »Jetzt bleibst aber da!«

Meinhardts Auge streifte Margret, als müsse von ihr eine Ermutigung dazu kommen. Doch sie schob den kleinen spitzen Schuh vor, kehrte ihn zur Seite und betrachtete die Sohle. So antwortete er nur zögernd:

»Vielleicht...« Dann mit plötzlichem Entschlusse: »Ich sollt' eigentlich den Abschied nehmen.«

Margret rührte sich nicht; Ossanas schwarze Augen waren auf ihn gerichtet. Aber sofort wandte sie sich wieder ab, um mit dem Henrietterl zu sprechen. Nun setzte Meinhardt dem alten Baron auseinander, es gäbe gewiß so viel zu ordnen beim Antritt des großen Besitzes, daß es freilich wohl das beste sei, hier zu bleiben. Dabei drehte er sich um und blickte zum Fenster hinaus auf die besonnten Hänge, über denen gerade das weiße Gemäuer der Rochusburg jenseits des Tales aufleuchtete:

»Ich hab' manchmal Heimweh gehabt, und wenn ich das jetzt wieder seh' nach den ewigen brandigen traurigen Londoner Nebeln, nach der fremden Pracht in Indien, nach dem schauerlichen Winter in Amerika, wo dann wieder die Sommerhitze viel schlimmer ist als hier bei uns, ach ...«

Baron Durazzi meinte nachdenklich: »Abschied nehmen ist schnell g'schehen! Ich wollt', ich hätt' weiter gedient.«

Er sah sich gewohnheitsmäßig um, als sei das schon eine gewagte Behauptung, die beanstandet werden könnte. Der Rittmeister hatte sich eine Zigarette angezündet; eine dicke Rauchwolke von sich blasend, meinte er: »A bissel eng ist's schon da! Immer die gleichen Leut'!«

Und es klang, als sei er weit in der Welt herumgekommen, während er doch seine ganze Dienstzeit in elenden galizischen und ungarischen Nestern verbracht hatte.

Graf Meinhardt trat mit dem alten Baron ans Fenster und blickte wieder zur Rochusburg hinüber, deren Fensterscheiben eben blitzten, als hieße es: »Ja, die Sonne, diese schöne Sonne, und unsere lieben Tiroler Berge.«

Der Rittmeister kam zu ihnen. Baron Durazzi sah sich um. Seine Töchter waren verschwunden. So legte er die Hände auf seiner jungen Wahlverwandten Schultern: »Na, was sagt's ihr denn zu euren Kusinen?«

Der Rittmeister strich sich mit den vom ewigen Zigarettenrauchen gelblichen Fingern den kleinen Schnurrbart: »Sehr fesch!«

Der alte Herr krümmte die haarige, alterssommersprossige Hand, an der der Ehering saß, nach innen und tupfte sich auf die Brust:

»Nachdem ich der Vater bin!«

Dann aber rief er ins Nebenzimmer durch die offene Tür: »Wie steht's mit der Jause?«

»Sofort, Papa!«

»Also schnell, Margret!«

»Die Margret ist nit da!«

»Na dann du, Ossana!«

Und zu seinem Besuch gewandt: »Ich weiß nie, ob die Margret spricht oder die Ossana.«

Der Rittmeister meinte: »Sie schauen sich auch sonst so ähnlich wie ein Ei dem andern.«

Graf Meinhardt machte ein erstauntes Gesicht. Da kam auch schon der Diener mit dem Teebrett. Henrietterl und Ossana folgten, mit geröstetem Brot und Butter.

Dann wurde Tee getrunken. Auf dem Sofa saß das Henrietterl zwischen den Schwestern, Graf Meinhardt neben Margret. Während sie sich von ihm von Amerika erzählen ließ, war sie immer bedacht, auch einmal ein Wort mit dem Rittmeister zu tauschen. Ossana aber bog sich über das Henrietterl vor, um Graf Meinhardt zuzuhören. Man spürte aus seinen Worten, wie der Gedanke an den Tod des Vaters ihn nicht los ließ, während des Rittmeisters leichtere Art Leben und Sterben hinnahm etwa gleich einem Garnisonwechsel, der Vorteile oder Nachteile bieten könnte.

Die Mädchen hatten sich Zigaretten angesteckt, nur Margret rauchte nicht. Allmählich kam man einander näher, der Tee mit Anbieten, Danken, Nehmen verknüpfte, und es war, als ob die Tabakwolken gemütlich die Geister einten. Immer wieder kehrten die Gedanken zur Rochusburg zurück. Graf Meinhardt hatte ja alles, was in diesen Jahren vorgegangen, nur brieflich erlebt. Er meinte, es sei bitter, daß er aus Selbstachtung im Hotel wohnen müsse, dem Tratsch und Klatsch der beschäftigungslosen Menschen eines Kurortes ausgesetzt, wahrend dort oben sein väterliches Schloß lag. Und noch einmal erzählte er alles, was geschehen. Wie der Papa ihn gewissermaßen um Rat gefragt, ob er die zweite Heirat wagen solle, und der Sohn ihm in aller Ehrerbietung das Gedächtnis an die verstorbene Mutter wachgerufen. Wie der Papa das dann übelgenommen und der Sohn in einer unseligen Anwandlung von Gereiztheit ihm nichts schuldig geblieben, bis der Briefverkehr mit einem Bruch geendet, während vielleicht bei einer kurzen Aussprache Auge in Auge alles sich hätte regeln lassen.

Aus Meinhardts Worten zitterte ein verwundetes Herz, der Poldi dagegen erklärte, ihm sei das alles Wurscht. Wurscht war jedes dritte Wort, als ob er auf die ganze Welt pfiffe. Nun ereiferte sich auch das Henrietterl, zum erstenmal im Zusammenhang den Gang der Ereignisse erzählend, die sie aus Rochusburg getrieben: »Schau, Meinhardt, du hast mir immer zugeredet in deinen Briefen, ich soll bleiben. Aber hab' i nit immer an die liebe Mama denken müssen, wenn die Fremde da sitzt? Und in alles hat sie sich hineinmischen wollen. Ich hätt' nit rauchen sollen, und nit allein nach Meran hinunterlaufen. Und der Unterricht bei dem englischen Fräulein hat ihr auch nit gepaßt. Ich müßt' in ein Pensionat. Mein Gott, wenn das die selige Mutter gewußt hätt'! Fort sollt' ich, damit sie allein regieren könnt'! Na, das war schon nit mehr zum Aushalten! Und wie sie dann grob worden ist ... sie war schon ekelhaft ... da bin i halt eines Tages nach Göllan kommen und hab' erklärt, i geh' nit wieder fort. Tante Angiolina hat mich zwar nit behalten woll'n, aber ich hab' g'sagt, eher geh' ich ins Wasser. Ja, wirklich, das hab' ich g'sagt.«

Der alte Baron schüttelte den Kopf: »Und da wird die Tante dir gesagt haben, daß das saudumme Gedanken sind, sich das Leben nehmen wollen. Recht hat sie, die Tante, wenn sie auch die Frömmigkeit a bisserl übertreibt, denn am End' hat man auch Pflichten auf der Welt und nicht nur für den Himmel, nachdem sie nit einmal weiß, wie lang' sie wird im Fegfeuer sitzen müssen.«

Plötzlich klang eine Stimme. Graf Meinhardt sah zuerst Ossana an, gewahrte aber dann, daß Margret sprach: »Lieber Papa, ich weiß, daß es nicht an der Tochter ist, dir Vorhaltungen zu machen, aber ich möcht' doch fragen, warum grad' die Mama so lang' im Fegfeuer sein soll?«

Der alte Baron lachte: »Ja, ja, schon gut! Natürlich kommt sie in den Himmel.«

Die junge Gräfin rief, eine Salzstange in der Hand, mit der sie ihre Bewegungen begleitete:

»'s ist wirklich so gewesen, Meinhardt, daß ich 's nit hab' aushalten können. Jedenfalls bin ich nit wiederkommen. Und die Tante hat mich hierbehalten.«

Baron Durazzi blickte nach der Uhr:

»Aber nun muß doch die Mama endlich heimkehren; der Rosenkranz ist doch aus.« Graf Meinhardt erhob sich:

»Wir können leider nicht länger warten, es wird schon bald Nacht, und wir müssen zum Essen im Hotel sein. Ein wenig die Papiere durchschauen muß ich auch noch, daß ich morgen früh, wenn ich mit dem Advokaten rede, orientiert bin.«

Der alte Herr, der, seitdem er den Abschied genommen, auf dem Ansitz seiner Familie in weichem Nichtstun die Jahre verbrachte, konnte solchen Eifer nicht begreifen.

Durch die Weingärten gaben die vier bis zur Haltestelle der elektrischen Tram den Scheidenden das Geleit. Der Rittmeister ging mit den Mädchen voraus, und bei dem bummelnden Gang, der ihm eigen war, streiften seine Schultern ab und zu die der Kusinen.

Drüben die Obermaiser Moränenhalde hinan glitzerte Licht an Licht, während in den noch nicht ganz dunkeln Himmel das zerklüftete Haupt des Ifinger seine breite Spitze schnitt. Im Passeier leuchteten matt schneebedeckte Berghänge, zur Linken ragte hoch oben in feierlichem Schweigen die steile Zackenmauer von der Mutspitze bis zum Tschigat.

Graf Meinhardt blieb mit dem alten Herrn stehen: »Unser Landl ist doch schön! Und den Papa hab' ich nicht mehr gesehen.«

Der alte Baron, den grünen Steirerhut ins Gesicht gesetzt, schob den Arm in den seines Begleiters. Während sie die Steinplatten zwischen den Nebenlauben niederschritten, sagte er: »Nur nit immer traurige Gedanken. Das Leben ist jammervoll genug!«

Und er machte ein ernstes Gesicht, als ob der untätige Mann unter des Daseins Last zusammenzubrechen drohte. Doch im gleichen Augenblick rief er schon wieder: »Setz' dich nur net zu zeitig hier fest. Denk' an mich! Ja, damals bei den Kaiserulanen, das war eine Zeit! Und die drei Jahr in Wien!«

Er ließ den andern los, straffte die Arme abwechselnd rechts und links, dann nahm er den Hut mit dem breiten grünen Band vom Kopf, und während er ihn vor dem Gesicht zwischen den Fingerspitzen ein paarmal langsam drehen ließ, summte er: »Mei Bluat geht so lufti, so leicht wia der Wind ...«

In der Ferne hörte man ein Surren; gegen Lana blitzten farbige Lichter auf. Die Mädchen unten schrien:

»Die Tram! Die Tram! Schnell, schnell!«

Nun gab es einen überstürzten Abschied, den der Rittmeister benutzte, um Margret und Ossana abermals vetterlich mit dem Schnurrbart die Wange Zu streicheln. Meinhardt streckte ihnen nur die Hand hin.

Noch ein: »Grüßt Tante Angiolina!« und die beiden rannten spornstreichs hinunter, um gerade noch die Tram zu erwischen. Den dunklen Gestalten drüben im Weingarten, die schon mit dem Erdreich verschwammen, winkten sie noch lange ein Lebewohl zu.

Die Mädchen gingen miteinander. Das Henrietterl eingehakt zwischen den Schwestern. Der alte Baron stieg langsamer hinterdrein. Die kleine Gräfin fragte:

»Na, wie g'fallt euch denn der Meinhardt?«

Ossana sagte: »So schön groß hätt' ich ihn mir nimmer vorgestellt!«

Margret schwieg. Sie wandte sich um, wo der Vater bliebe. Gegen den blendenden Lichterschein von Meran und Mais dort drüben sahen sie ihn im ersten Augenblick nicht. Sie hörten nur durch die Nacht das Lied, womit er seinen Gang begleitete: »Mei Bluat geht so lufti, so leicht wia der Wind – –«

KAPITEL 2

Inhaltsverzeichnis

Graf Meinhardt Aich fuhr durch Obermais' ewiggrüne Gärten. Die Nadelhölzer erwachten schon aus stumpferem Wintergrün zu helleren Farben. An den Laubbäumen ahnte man erst die Knospen, die bei dauernder Wärme sich in wenigen Tagen zu Blättern entfalten würden. Rund um den Postplatz träumten die alten Schlösser Rottenstein, Rosenstein, Reichenbach und Rundeck, und durch die lange Gasse lugten die in den Tiroler Farben weiß und rot prangenden Läden des adligen Ansitzes Knillenberg. Am plätschernden Brunnen sogen Kühe gierig das Wasser aus dem Becken.

Höher strebte der Wagen die Straße hinan, die Wohnsitze lagen jetzt weiter auseinander, die Zahl der Anger wuchs, von alten Edelkastanien umsäumt, mit Obstbäumen bestanden, die schief gewachsen, verknorrt und verknorpelt, die Zweige niederhängen ließen vom jährlichen Segen, den das Land fast ohne Mühe den Menschen schenkte. Jenseits der Ralf kamen die welschen Zinnen des Schlosses Rametz in Sicht, in Weingärten gebettet. Wein wuchs hier, überall Wein. Nun tauchte das Schloß Labers auf, den Eingang zum Naißtal hütend, dann führte die Straße am Berge hin, hoch über der Tiefe, in der winzig das Kirchlein St. Valentin lag. Bauernburschen, die braunen Röcke mit den roten Aufschlägen über die Achsel gehängt, daß darunter die grünen Hosenträger weithin leuchteten, am Hut die rote Schnur, ihr Ledigsein kündend, gingen vorüber. Ein alter Mann, mit grauen Bartstoppeln, wohl der Vater, folgte allein. Die jungen Leute achteten nicht auf das Gefährt. Der Alte aber wich, wie in augenblicklichem Erschrecken, zur Seite.

»Grüaß Gott, Kuntner!«

Meinhardt ließ den Magen halten, und die beiden schüttelten sich die Hände. Der Bauer strich sich das weiße Haar aus der Stirn:

»Mir hab'n schon g'moant, Sie mögen gor nimmer kemmen.«

»Es geht nit immer, wie man will!«

Der Alte blinzelte listig:

»Sell woll, i verstea schon, man hat eppes g'hört. Aber kehren's nit a mol zua bei ins, Herr Grof? Möcht' ins schon sehr frein, mein Suhn und mei Tochter – –«

»Ja, i komm', grüaßt mir die Frau.«

Der Alle sah ihn mit offenem Munde an:

»Der Herr gib ihr die ewige Rua, am Pfingstig sein's zwoa Johr, daß mir sie begraben heben.«

»Ach!«

»Ja, du mei! Sterben müassen mer olle. Und die Muatter hat koa Freid mehr g'hobt am Leben, arbeiten hat s'a nimmer kinna, und der Bauer muaß arbeiten, sonst geat nix mit ihm!«

Die Knie auseinander bei seinen krummen Beinen in den dicken Hosen, die eine Handbreit über die Knöchel hinausstanden, zog er bedächtig den Lederbeutel mit dem Tabak und begann, seine Pfeife zu stopfen. Während er das Streichholz an der Hose anstrich, fuhr er fort:

»Na die Frau Muatter, Herr Grof, ischt koa schlechte Frau nit, wia man a so hört. Ja, und der Herr Vater ischt halt schun alt g'wesen. Olte Leit sein nix mehr nutz. Bald i nimmer arbeiten kinnt – i wollt', i war glei hin. Aber die Frau Gräfin ischt no guat beieinand. Wann i so oane fand', i tat's no amol wagen, denn fleißig ischt sie, wia man schun a so hört.«

Die Pfeife war in Brand. Der alte Bauer erstickte das glühende Zündholz in der hohlen Hand. Eine Weile schmauchte er. Auch Meinhardt schwieg. Dann blickte der Alte zum blauen Himmel auf und sagte unvermittelt:

»'s geat a guater Wind!«

Und er fuhr mit den rissigen, knorpligen Fingern, daran die schwarzen Nägel saßen, einen weiten Bogen von der Mutspitze herüber nach Süden: »Woll, woll, Pfüat Gott!«

Sie drückten sich die Hand: dann stolperte der Alte in schwerfälligem Gang, eng die Beine voreinander setzend, wie die Bergler es tun, den Fahrweg hinab, ohne sich umzusehen.

Immer weiter ward, wie der Wagen nun um die Ecke kam, der Blick. Mit einemmal tat sich das ganze lachende Etschland auf, darüber die Berge: der Lodner dort, der hinter dem Tschigat emporgewachsen war, das Vinschgau, zum Ortler hinanführend, das Passeier mit seinen schneebedeckten Höhen, und nach Süden, der Sonne zu, die dort als Feuerball am Himmel stand, die steil abfallende Nase des Gantkofels. Unten lag Meran: man sah die grünen Flecke der Gärten, die hellen Striche der Straßen, dann Weingärten, Obstanger. Hier und da schimmerte ein Dorf: Algund, Plars, Partschins, dort gegenüber Marling, und dann hineinfressend wie eine Hafenbucht, Lana, dabei Göllan, winzig nur, doch zu erkennen, mit dem Auge dessen, der dort seine halbe Heimat sieht.

Meinhardt ließ die Blicke zurückschweifen: da – tiefer als er stand – Schloß Katzenstein, höher darüber die Fragsburg, und zwischen ihnen schauten ihn die uralten Mauern der Rochusburg an, mit langgestrecktem Pallas und dem gewaltig trotzigen Bergfried, auf dessen Turm die Tiroler Farben, rot und weiß, halbmast wehten.

In dichtem, dunklem Geflecht umspann der Efeu die riesenhohe Mauer, darin die Fenster gotisch spitz, romanisch rund, mit Renaissancefassungen andere und mit glatten Spiegelscheiben. Schon bogen sie in den Kastanienhain und fuhren durch das Tor, Rest eines alten Vorwerkes, an dem schiefstehend, der Topfhelm darüber, das Aichsche Wappen angebracht war. Auf dem weißen Felde stand ein Männchen, geschmiert mit ungeschickter Kindernarrenhand. Das hatten sie einst als Buben gemalt, der Poldi und der Meinhardt. Und noch immer war es da. Nun fuhren sie durch den gewaltigen Torturm, an dem die mächtigen Falzsteine herausstanden, darinnen einst das Fallgatter gelaufen. Auf den Steinplatten hallte der Hufschlag. Der geräumige, dreieckige Hof tat sich auf mit der dunklen Efeuwand. Und wieder ein Wappen über der Tür. Ein grauer Kopf erschien, eine schwarze Livree, und Graf Meinhardt streckte dem alten Diener die Hand entgegen: »Ich wär' lieber zwei Wochen früher gekommen.«

»Ja, sie haben Exzellenz fortgebracht.«

»Ich war am Friedhof! Traurig, traurig!«

»Herr Graf sind lang' nimmer hier g'wesen!«

»Sehr lang' nicht! – Wie geht es Ihrer Frau?«

»Halten zu Gnaden, Herr Graf, wann's vielleicht Herrn Grafen hernach einmal begrüßen dürft'...«

»Gern. Was machen die Kinder?«

»Der Ält'ste ist in der Lehr'!«

»Und das Moidele?«

Über des Dieners glattes Gesicht ging ein Strahlen: »Verheiratet, Herr Graf!«

»Wer ist's denn?«

»Er ist Sattler in Meran!«

Graf Meinhardt brach ab:

»Wir sprechen noch mitsammen. Ist Exzellenz zu Haus?«

»Exzellenz erwartet Herrn Graf!«

Während der Diener den Läufer der breiten Wendeltreppe hinaufschritt, blickte Graf Meinhardt um sich. Vor dem großen Fenster der Halle streckte der Feigenbaum wie immer die winterkahlen Äste gleich dicken knorpeligen Fingern in die Luft. Da hingen noch die Waffen, die sie einst als Kinder so bewundert, der Schild, auf den sie verstohlen geklopft, damit es den schauerlich dumpfen Ton gäbe. Dort drohten die gotischen Rüstungen mit den seltsam spitzen Schuhen, den breiten Schallern, die aussahen, als hätten die alten Ritter Hüte aufgehabt. Nur ein Ungewohntes war zu erblicken: eine Anzahl Koffer standen am Eingang, jemand schien abzureisen. Oben aber, am großen Fenster, das der Papa einst hatte durchbrechen lassen wegen der Aussicht ins Etschland hinab, erhob sich eine schwarze Gestalt, und eine ruhige, weiche Stimme klang:

»Ich wollte, wir hätten uns früher gesehen!«

Er wich aus: »Ich wollt', ich hätt' meinen Vater wiedergesehen!«

Sie machte eine Bewegung, daß er Platz nehmen sollte. Da stand alles noch so wie früher. Mit einem Blick umfaßte Graf Meinhardt Bilder, Schränke, Leuchter, Tische, Stühle und die Truhen an der Wand. Er sah keinen einzelnen Gegenstand und hätte doch jede Veränderung wahrgenommen. Nein, es war, als sei er niemals fortgewesen.

Sie setzten sich. Nun, wo das halbe Licht auf das Gesicht der Dame da im schwarzen Kleide fiel, erblickte er ein paar kluge Augen, Züge, ernst, wie es dem Augenblick entsprach, und doch nicht geknickt. Faltenlos war das Antlitz, nur das ergraute Haar und die ein wenig schlaffen Wangen deuteten die Jahre an.

»Gnädigste Gräfin, ich hielt es für meine Pflicht, nun, wo ich dies Haus wieder betreten darf...«

»Es ist Ihr Eigentum.«

»Aber das Haus meines Vaters war mir verboten.«

»Ich hab' öfters versucht, Ihren Vater zu bewegen, Ihnen zu schreiben. Ich fühlte mich freilich auch nicht berechtigt, einen Druck auszuüben, wo meine Lage doch schwierig und peinlich war – –«

»Daran waren Sie doch selbst schuld.«

Ihre Augen richteten sich fest auf den Besucher:

»Ja, wenn man so will – ich war schuld, gewiß. Ich würd' es aber ein zweites Mal genau so machen.« Sie fuhr weicher fort: »Ich möcht' Ihnen aber erst einmal herzlich danken, Graf Meinhardt, daß Sie gekommen sind und mir so eine Aussprache ermöglichen. Ich bin sehr gerührt davon. Und ich freu' mich um so mehr, als ich dieses Haus ja verlasse –«

»Bitte, Gräfin, ich dränge Sie nicht etwa...«

»Doktor Kofler hat es mir gesagt. Ich bin auch dankbar dafür, aber ich hab' schon gepackt. Ich bin nur noch hier, weil ich hoffte, Ihnen die Rochusburg selbst übergeben zu können, Ihnen, dem Sohn, ich, die Mutter.«

Graf Meinhardt zog die Brauen zusammen: »Meine arme Mutter ruht seit vielen Jahren in ihrer Gruft. Und sie liegt an der Seite ihres Mannes.«

Die Gräfin antwortete ganz ruhig: »Gewiß, und zwar auf meinen Wunsch, denn eine Bestimmung seitens meines Mannes, dessen zweite Frau ich war, lag nicht vor. Ich hab' Ihren Vater auch nicht etwa kennengelernt, nachdem Ihre liebe Mutter gestorben war, hab' mich nicht – wie manche Leute zu denken scheinen – eingeschlichen in die Familie. Nein, ich hab' Ihren Vater gekannt, längst ehe er verheiratet gewesen ist. Er war damals in Wien im Ministerium und ich ein kleines Komtesserl. Bei uns waren die Verhältnisse nicht eben glänzend. Da kam Ihr Vater, klug, ernst, feinfühlig, am Beginn einer sicheren Karriere. Ich brannte lichterloh. Aber es ihm zeigen – niemals. Er näherte sich mir. Er war nahe an einer Erklärung. Da machte ein Kamerad von ihm Anspielungen auf die ›Komtesserln, die Versorgung suchen‹. Bei einem Charakter, wie ich ihn leider hab', ist das sofort das Signal gewesen, abweisend zu sein. Und als er um mich anhielt, lachte ich ihn aus. Er betrat unser Haus nicht mehr. Kurzum – dann hat sich Ihr Vater verheiratet. Und dann starb mein Vater und auch meine Schwester. Mein Schwager half mir, und ich nahm's an, doch bald fiel auch das weg, denn eines Tages sollte ich die Nachfolgerin meiner Schwester werden. Ich sagte nein – einfach weil ich – das mag den Oberflächenmenschen lächerlich erscheinen – nach zwanzig Jahren noch an Ihren Vater dachte. Von dem abgewiesenen Schwager wollte ich kein Geld nehmen. Und da ging mir's schlecht, so schlecht, wie's einem armen angejahrten Komtesserl nur gehen kann. Kurz darauf starb jedoch auch mein Schwager und setzte mich zur Erbin ein. Ich ward ein recht vermögendes Menschenkind und hab' keine Versorgung mehr gebraucht, gar keine. Da eines Tags in Wien trat Ihr Vater bei mir ein und sagte kurz: ›Ich bin Witwer. Ich war sehr glücklich, hab' nie wieder an Sie gedacht, seit ich damals von Wien fortgegangen bin vor fünfundzwanzig Jahren. Aber allein kann ich's nicht aushalten, gerad' weil ich so glücklich verheiratet gewesen bin. Meine Söhne sind beide fort, und die Kleine... Nun, Graf Meinhardt, das übrige wissen Sie ja!«

Einen fast harten Ausdruck hatte sie angenommen und ihre Augen blickten Meinhardt ohne Wimperzucken an: »Wir heirateten sofort. Ich bin nicht die Frau, sich vor Tratsch zu fürchten. Es gibt ein einziges, das uns Menschen Richter sein sollte: unser Gewissen. Auch war mir etwas, das Ihr Vater besonders betont hat, verlockend: ein mutterloses und, wie es schien, auf unsicherem Wege befindliches Kind zu einer vernünftigen Frau zu erziehen. Mir ist es nicht gelungen. Hoffentlich anderen. Kurz – so bin ich hierhergekommen.«

Graf Meinhardt erhob sich. Als er sich ihr näherte, erhob sich auch die schwarze Gestalt, die nun, nicht viel kleiner als er, vor ihm stand. Er sagte nur das eine Wort: »Mama!«

Sie öffnete die Arme, einen Augenblick berührten sich ihre Wangen. Dann mußte ihm die zweite Frau seines Vaters lange erzählen, von den letzten Stunden, Tagen, Jahren. Als er mit ihr zum Sterbegemach seines Vaters ging, sah er sich allein. Erst draußen trafen sie sich wieder, und mit einem dankbaren Blick belohnte er ihr Zartgefühl. Dann bat er, die Dienstboten zu besuchen mit ihr zugleich, und – wenn auch ein wenig zögernd – flocht er das Wort »Mama« ein, es klingen lassend vor den Leuten, die gewiß vom Zwist der Familie mehr noch wußten als irgendeiner der Beteiligten selbst...

Zu Tisch war Meinhardt wieder unten im Hotel. Als er dem Rittmeister mit warmen Worten von der Stiefmutter erzählte, machte der ein bedenkliches Gesicht:

»Meinhardt, du hast dich hineinlegen lassen!«

Doch der ältere Bruder ärgerte sich nicht, sondern steckte sich, ohne ein Wort zu erwidern, eine Zigarette an. Der Poldi sog den feinen Duft ein: »Geh, schenk' mir eine!«

»Ich laß dir welche schicken, Poldi.«

»Na, nehm's schon an, dank schön. Nachdem du der Majoratsherr bist...«

Doch Meinhardt gab keine Antwort. All seine Gedanken waren in Göllan. Er nahm seinen Bruder beim Arm, und erst als sie in der Tram saßen, die nach Lana fuhr, schien er zu erwachen.

KAPITEL 3

Inhaltsverzeichnis

Im Sonnenscheine lag das Etschland. Die Bäume waren schon begrünt, einzelne standen im Blätterschmuck. Alle Wege wimmelten von Fremden, um die Mittagsstunde konnte man gewiß sein, Bekannte zu treffen. Auf der einen Seite der mit großen Bäumen bestandenen Kurpromenade lag das Kurhaus, auf der anderen rauschte die Passer in ihrem breiten Schotterbett, jetzt zur Zeit der Schneeschmelze fast mit Wasser gefüllt. Die Musik spielte, die Menge ging auf und nieder, in dichten Reihen sonnten sich die Menschen oder betrachteten die Vorübergehenden.

Der Rittmeister saß neben seiner Schwester und dem allen Baron Durazzi auf einer Bank. Und immer lächelte das Henrietterl; es konnte ja gar kein anderes Gesicht machen. Bei jedem Vorüberschreitenden sagte es zum Bruder: »Schau, wie lieb'«, oder »schau, wie blöd«, oder »das G'sicht hab' ich noch nit gesehen.« Dann wurde der alte Baron zu Rate gezogen, wer die neue Erscheinung sei.

Der streckte die Beine von sich mit den gelbbraunen Reitgamaschen, die er immer trug, obwohl er seit dreißig Jahren auf keinem Pferde mehr gesessen, lugte hinüber aus seinen lebhaften grauen Augen und gab Auskunft. Was er aus alter Reiterzeit her »das Pedigree feststellen« nannte, war seine liebste Beschäftigung. Er war mit allerlei Kurgästen bekannt, wenn auch nur oberflächlich, denn die Durazzi machten kein Haus. Wußte er aber einmal nicht Bescheid, so horchte er jeden seiner vielen Bekannten aus, hielt Lohndiener an, die den Leuten etwas besorgt, sie im Rollstuhl gefahren hatten, oder befragte die Fiaker und Geschäftsleute.

Der Rittmeister dehnte sich behaglich in der Sonne. Er konnte sich von Meran nicht fortfinden, seinen Urlaub hatte er schon zweimal verlängern lassen. Das Henrietterl spähte die Promenade hinab: da erschienen in der Ferne Margret und Ossana. Bei gleicher Gestalt, gleichen Kleidern, die Uhrkette gleichmäßig um den Gürtel gelegt, hätte man die beiden von weitem schon am gleichen eigentümlich federnden, ja schwebenden Gang erkannt.

Das Henrietterl fragte: »Und die Tante?«

Margret wandte sich zu ihrem Vater: »Die Mama läßt sagen, sie sei noch einmal zum Pfarrer Loisinger gegangen wegen der Bonifazius-Sammlung.«

Ritterlich stand der alte Herr auf, daß seine Töchter auf der Bank neben dem Henrietterl Platz fänden. Es war aber auch ein Hintergedanke dabei, denn in dem Augenblick rauschte eine nach letzter Mode gekleidete Dame vorüber, die äußerst von oben herab dreinschaute, begleitet von einer bescheiden angezogenen Miettante. Ein paar Herren grüßten vertraulich mit halbem Lächeln, und die schöne Dame antwortete sehr ernst, sehr gnädig, eine Spur lächerlich.

Baron Durazzi hatte sich sofort nach der neuen Erscheinung erkundigt.

Als er wiederkam, fragte das Henrietterl: »Wer ist denn das, Onkel?«

Der sagte mit ernstem Gesicht: »Ganz eine ordinäre Person!«

Die ewig lächelnden Augen der jungen Gräfin lächelten weiter. Sie tuschelte mit Ossana, während Margrets Gesicht unbeweglich blieb. Der alte Baron zog den Rittmeister beiseite, und die beiden erzählten sich prustend etwas hinter dem Rücken der Mädchen.

Da kam abermals eine Dame vorüber, die man nicht kannte, äußerst einfach gekleidet. Neben ihr ein Herr, der einen unauffällig grauen Anzug trug. Wieder wurde gefragt, wer es sei. Baron Durazzi war sofort unterwegs. Als er zurückkam, brachte er die Mitteilung, es sei die Fürstin – und er nannte einen großen Namen.

Inzwischen hatten Bekannte sich ihnen genähert. Die Gruppe wuchs bald und versperrte den Weg. Da war der alte baumlange westfälische Graf Lengerstorff mit dem schönen weißen Vollbart, der ihm bis auf die halbe Brust reichte, stets von seiner Tochter begleitet, die ihm bei jedem Straßenübergange den Arm bot. Da gab es den Herrn von Holleuffer, Offizier bei einem Berliner Garderegiment, der, um Haupteslänge alle überragend, den jungen Damen die törichtesten Dinge sagte, während er doch im Dienst ein tüchtiger Mensch sein sollte. Dann kam die Gräfin Helfenrieth mit ihren drei Dackeln, ohne deren still-freundliches Schwänzeln sie nicht zu denken war. Exzellenz Baron Bereny de Nagy-Beren, Wirklicher Geheimer Rat Sr. K. u. K. Apostolischen Majestät, der die Kunst besaß, jeder Dame etwas zu sagen, das sie tagelang nicht vergaß, drehte den schwarzen in nadelscharfe Spitzen zusammengezwirbelten Schnurrbart und sprach mit den Schwestern. Immer mehr Menschen sammelten sich, wie wenn ein Wespenschwarm sich ansetzt und eine Traube bildet. Sir Henry Wookleys glattrasiertes seines Gesicht tauchte auf und der Lady lang vorstehende Zähne. Das »Känguruh« wurde sie genannt, weil sie ihre hängenden Hände in Brusthöhe hielt gleich den kleinen Vorderpfötchen des australischen Tieres.

Der Rittmeister war sofort zu Mary und Mabel den beiden Töchtern getreten: strohblond, mit dem feinen Gesicht des Vaters, aber der Zahnstellung ihrer Mutter. Margret sagte zu Ossana:

»Wenn der Poldi Geld riecht, ist's aus.«

Der redete in der Tat nur noch mit den beiden, nicht gerade Geistesblitze um sich schleudernden plattbrüstigen Wesen, die im Geruche ungeheuren Reichtums standen, obgleich ihn niemand gesehen hatte.

Das Henrietterl schwatzte mit Oberleutnant König von den Kaiserjägern, der, schlank, schwarz, in die enge Uniform gebremst, wie ein Strich anzuschauen war. Sie wollte sich ausschütten vor Lachen, voll jener Heiterkeit, die ihr ernstere Leute ein wenig übelnahmen, in ihrem Gewande tiefer Trauer.

Ossana unterhielt sich mit einem hübschen Menschen mit leichter Stupsnase und kleinem blonden, bürstenartig geschnittenen Schnurrbärtchen. Was er trug, schien eben fertig geworden zu sein: die gelben Schuhe, mit Schleifen gebunden, die hellen Strümpfe, der faltenlose Sakkoanzug. Er sah Ossana Durazzi in die schwarzen Augen, die aber blickte die Promenade hinab.

»Sie hören ja gar nicht zu, Baronin!«

»Pardon, Graf Bernburg, ich hab' nämlich grad' meinen Vetter Aich g'sehen.«

»Der Poldi ist doch hier!«

»Nein, nein, der Meinhardt.«

Der Graf strich überlegen lächelnd die kleine Bürste über der Oberlippe: »Sie sind ja ganz portiert, Baronin!« Aber schon war sie davon. Der Graf rückte die Aufschläge seines Sakkos gerade, zog die Manschetten heraus und blickte der schlanken Gestalt nach, auf deren Gürtel die Uhrkette auf und nieder klappte, so schnell lief sie die Kurpromenade hinab.

»Meinhardt! Meinhardt!« Ossana stand vor ihm, mit geröteten Wangen: »Meinhardt, laß dich doch einmal anschaun! Der Papa fragt immer nach dir.«

»Ich war drei Tage in Kaltern und Tramin. Dort hab' ich Gründe.«

»Aber zu uns kommst gar nie mehr. Geh wenigstens ein Stückl mit!«

Langsam näherten sie sich den anderen, und während des Schreitens berührte sie ihn fast mit dem Ärmel, so nahe ging sie neben ihm. Da fragte er: »Sind die anderen hier?«

»Ja, alle, das Henrietterl, der Poldi und der Papa.«

»Margret nicht?«

Ossana warf den Mund auf: »Schon! Die Margret ist auch da.«

Er entschloß sich schnell: »Gut, ich komm' mit!«

Während sie gingen, fragte Ossana, wie weit die Umbauten auf der Rochusburg wären, und machte dazu ein böses Gesicht:

»Und man bekommt nix davon zu sehen! Wann ist's denn fertig?«

»In ein paar Wochen.«

Enttäuscht ließ sie den Kopf sinken: »So spät!«

Inzwischen hatte sich der Wespenschwarm in Gruppen gelöst. Der Musiktempel war leer geworden, die Kurmusiker gingen davon. Laut tönte Baron Durazzis Stimme: »Bist denn ganz Einsiedler geworden, Meinhardt? Man sieht ja gar nix mehr von dir!«

»Ich bin doch erst am Sonntag in Göllan gewesen!«

Graf Bernburg sagte lächelnd in seinem Nasenton: »Geruhen Sie uns Weltmenschen der Promenad' auch einmal zu besuchen, Graf Aich?«

»Ich geruhe!«

Der Modenarr machte ein unsäglich törichtes Gesicht.

Ein gemeinsamer Ausflug ward geplant. Ossana und das Henrietterl redeten Graf Meinhardt zu, sich zu beteiligen. Er meinte, er hätte keine Zeit. Da rief der alte Baron auch seine andere Tochter zu Hilfe: »Margret, steh uns bei!«

Mit ihrer gleichmäßigen Liebenswürdigkeit bat sie: »Es wäre sehr nett, lieber Meinhardt, wenn du mitkommen tätest!«

Nun sagte er sofort zu. Tag und Stunde wurden bestimmt, dann begleiteten die Brüder Aich die Durazzis zur Tram. Am Ruffinplatz stiegen die Göllaner ein.

»Also morgen um drei!« rief das Henrietterl den Zurückbleibenden nach; und Ossana: »Am Pfarrplatz, Meinhardt, am Pfarrplatz!«

Die drei Mädchen saßen allein im Wagen. Der Papa stand hinten. Das Henrietterl öffnete eine Schachtel mit Pralinen, die der Bruder ihr noch zugesteckt, und sagte einmal über das andere: »Er hat so ein gutes Herz!«

Ossana warf einen Blick herüber: »Dafür hat Margret gar keins.«

Aus Margret Durazzis sonst so ruhigen Augen schoß ein Blitz zurück: »Was wißt denn ihr davon!« In diesem Augenblick steckte der alte Baron den Kopf herein und rief in den sonnendurchfluteten warmen Glaskasten, mit einer weiten Gebärde auf die noch schneebestäubte Bergkette und das lachende Etschland deutend: »Schön ist's hier, Kinder, schön! Da sagt vorhin der Esel, der Sektionschef, am Leben war' nix dran. Ich sag' euch, i leb' gern, aber schrecklich gern!«

Ossana rief: »Ich auch!«

Der alte Baron ging in dem bei der Biegung schwankenden Wagen auf seine Tochter zu: »Du bist mein recht's Kind!« Er legte den Arm um sie und wollte eben beginnen, sich im Walzertakt zu wiegen, als Margret ihn beim Ärmel faßte: »Gib Obacht, Papa!«

Da sahen sie des einzigen Fahrgastes, der außer ihnen die Tram benutzt und vorn gestanden, eines Bauern, eisgrauen Vollbart am Fenster. Er öffnete die Tür und rief herein:

»Dös geat schlecht beim Fahren, nit wohr?«

»Schon!« antwortete der Baron.

Der Alte grinste, während ihm die Pfeife aus dem Munde hing: »Sein dös Ihre Töchter, die Gitschen da?«

»Freilich.«

Der Bauer lachte noch mehr, daß man die gelben Zähne sah: »Dia g'falln mir ganz guat!«

Die drei Mädchen waren totenstill geworden, erst nachdem der Alte die Tür geschlossen, fanden sie ihr Lachen wieder. Baron Durazzi aber saß jetzt würdig da:

»Kinder, Kinder, wenn das die Mama wüßt'!«

KAPITEL 4

Inhaltsverzeichnis

Schon waren rund um das alte Göllan die Weingärten begrünt, und nach Süden, wo der breite hölzerne Söller weit vorsprang, hingen an armstarken Stämmen um das Gebälk gerankt die traubenartigen lila Blüten der Glyzinien. Darum ein Summen und Surren von Kerbtieren, die der betäubende Duft angelockt. Der Garten, verwahrlost ein wenig, stieg lehnan. Von alten Kastanien beschattet und allmählich in den Anger übergehend, verlor er sich im Buschwald, den Marlingerberg hinauf. Bauernblumen blühten auf den Beeten, mit niedrigen Buchsbaumhecken eingefaßt, schief geschnitten von unlieber Hand. Seit Jahren wurden die Wege nicht beschottert, so wucherte auf ihnen Gras und Grün, darin wie über eine häufig begangene Wiese Pfade getreten waren. Auf den zerfallenen Einfriedigungsmauern des Gärtleins sonnten sich Eidechsen, alle Viere ausgestreckt, den platten Kopf aufgelegt, regungslos, nur mit den kleinen Äuglein sichernd, jeder Störung gewärtig. Eine grüne Lazerte, wohl eine Spanne lang, hatte den Vorzugsplatz auf einem feinen Marmorkapitäl, das einst vielleicht der Stolz eines Durazzi gewesen, nun aber wie jeder andere gemeine Stein mit eingemauert worden, ein Sinnbild gleichmachender Zeit. In einer Senkung von Dornen und Gestrüpp, von wild wuchernden Schlinggewächsen und dichtem Bambusgebüsch umrahmt, spiegelte grünlich schillerndes Wasser. Träge ruhte die Fläche, bis plötzlich etwas darüber huschte. Nun sah man den Kopf und die Bewegungen: eine Äskulapnatter schlängelte sich von einem Ufer des Tümpels zum anderen. Dann wieder sengende Stille und nur das Summen und Schwirren des Geziefers an den schweren Dolden der Glyzinien.

Über die dunkeln Hohlziegel des alten Ansitzes hinweg sah man in der Taltiefe auf dem geraden Strich der eingedämmten Etsch das Sonnengleißen, dann unregelmäßige Vierecke der Wiesen, mit Obstbäumen bestanden, deren Zweige aus alter Gewohnheit früchteschweren Tragens niederhingen. Erlenbüsche umfaßten graugrün das breite Ablagerungsfeld des Ultenbaches. Ein Sonnenflimmern lag über dem flachen Land, in dem etwas durcheinanderziehend sich bewegte. Erst bei genauerem Hinblicken entdeckte das Auge Abteilungen der Kaiserjäger jenseits der Etsch. Über der Unruhe ruhte in der Ferne, in grüne Gärten gebettet, das Häusermeer von Meran und Mais. Darum standen zackige Berge. Weingärten zogen ihre Lehnen hinan, dann Kastanienhaine grün und dicht, endlich Nadelholz schütterer mehr und mehr, daraus Geröll blinkte, und, gegen den Himmel abgesetzt, auf den Hochflächen des Mittelgebirges, Wald wie der Rücken einer haarigen Hand, endlich aber nackter, zerrissener, scharfer Fels. Und immer blieb in dem Bilde ein Punkt, der die Augen bannte: die weiße Rochusburg.

Da huschten, aus dem Ansitze tretend, die hellen Kleider junger Mädchen und Frauen. Offiziere, Herren im Tennisanzug waren mit ihnen. Bald sah man die roten, weißen, lila Pilze der Sonnenschirme aus dem Grün hervorwachsen. Gelächter klang. Einer der Herren hatte versucht, einen alten Kastanienbaum zu erklettern. Nun hing er zwischen Himmel und Erde und tat, als könne er nicht wieder hinab. Immer trostloser wurde die Miene dessen da oben. Er zog den Rock aus und warf ihn ins Gras, er ließ die Weste folgen, dann hakte er vorsichtig Uhr mit Kette an einen Zweig, und unter grauslicher Anstrengung und Gefahr kam er endlich ganz bequem und leicht herab. Ossana rief: »Jesses, die Uhr!«