BAT Boy - C. A. Raaven - ebook

BAT Boy ebook

C. A. Raaven

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Opis

Das Erstlingswerk des Berliner Autors in überarbeiteter Neuausgabe.Im Berlin des Jahres 1999 kämpft ein Junge namens Lucas zunächst nur darum, mit einer ganzen Reihe von Seltsamkeiten klarzukommen, die seit seinem dreizehnten Geburtstag überall um ihn herum zu geschehen scheinen. Die Antworten, die er von einem Lehrer an seiner neuen Schule erhält, bringen Licht ins Dunkel. Aber anstatt sich über die Entwicklung freuen zu können, befindet er sich mit einem Mal mitten in einer abenteuerlichen Jagd nach einer Bombe, die irgendwann irgendwo in Berlin gezündet werden soll.Ein humorvoller und actiongeladener Jugendroman für alle, die sich fragen, ob der Start ins Jahr 2000 tatsächlich vollkommen problemlos verlaufen ist.

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Überraschung
Ab in die Ferien
Ein Hotel am Meer
Die neue Schule
Warten, nichts als warten
Enthüllung
Ausflug
Die BAT
Brecher
Erklärungen
Nächtlicher Angriff
Auf und davon
Weitukäi?
Man sieht sich oder auch nicht
Allein
Zufälle
Ein Experiment
Weitukäi!
Zufällige Begegnungen
Die erste Verbindung
Erkenntnisse
Bombentransport
Familiengeschichten
Endspiel
Mitternacht
Epilog
Nachwort
Über den Autor
Impressum

Inhaltsverzeichnis

Überraschung

Ab in die Ferien

Ein Hotel am Meer

Die neue Schule

Warten, nichts als warten

Enthüllung

Ausflug

Die BAT

Brecher

Erklärungen

Nächtlicher Angriff

Auf und davon

Weitukäi?

Man sieht sich oder auch nicht

Allein

Zufälle

Ein Experiment

Weitukäi!

Zufällige Begegnungen

Die erste Verbindung

Erkenntnisse

Bombentransport

Familiengeschichten

Endspiel

Mitternacht

Epilog

Nachwort

Über den Autor

Impressum

Überraschung

Ich jage durch die Schwärze der Nacht.

Ich bin da, und um mich herum sind viele andere.

Zusammen sind wir auf der Suche.

Unsere Schreie zeichnen uns den Weg.

Ein herrliches Gefühl von Freiheit umgibt mich

und durchdringt meinen Körper.

Meine Mutter ist da und flüstert mir etwas zu.

Lucas ...

Sie lächelt mir zu, und ich fühle mich

als hätte ich das ganze Jahr über Geburtstag.

... Geburtstag, Lucas ...

Aber ich habe etwas vergessen  – ich wollte etwas tun.

Überraschen wollte ich sie – genau das war es.

Aber jetzt ist es zu spät – es ist zu spät.

Zu spät ...

»... zu spät zum Spiel. Luky, Schätzchen, du musst doch noch deine Geburtstagskerzen auspusten.«

it einem Mal war Lucas wach. Das war es, was er vergessen hatte. Seitdem er sich erinnern konnte, hatten ihm seine Eltern immer einen wunderschönen Geburtstag bereitet. Und nun, nach dreizehn Jahren, hatte Lucas beschlossen, sie mit einem von ihm zubereiteten Frühstück zu überraschen. Er hatte es sich fest vorgenommen, doch jetzt war es zu spät. Er hatte verschlafen, sodass ihm wahrscheinlich nicht einmal genug Zeit blieb, um mit seinen Eltern irgendeine Art von Frühstück zu sich zu nehmen.

Lucas schoss hoch und ... KRACH!! Der Schwung, mit dem er seinen Kopf eben noch angehoben hatte, wurde abrupt von etwas Hartem gebremst. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn.

Stöhnend und sich die Stirn reibend öffnete er die Augen und sah, was ihn aufgehalten hatte. Irgendwie musste er sich in der Nacht im Schlaf gedreht haben, sodass er mit dem Kopf unter dem Bücherbord gelegen hatte, das am Fußende seines Bettes ein Stück herüberragte.

Jetzt bemerkte Lucas auch Betty, seine Mutter. Sie hockte mit einem entsetzten Gesichtsausdruck neben seinem Bett, der zeigte, dass sie sich Vorwürfe machte, ihn aus dem Schlaf geschreckt zu haben.

»Morgen Mam«, murmelte er – immer noch seine Stirn reibend. »Keine Sorge. Ist nichts passiert.«

»Na ja«, kam es von ihr zurück. »Wenn wir heute Fasching hätten, und du dich als Einhorn verkleiden wolltest, dann wäre das wohl wirklich nichts, aber ...«

Er sah sie verständnislos an. Als er sie fragen wollte, was sie meinte, traf sein Blick zufällig den Spiegel Kleiderschrankes. Lucas sah sich im Bett sitzen. Mitten auf seiner Stirn erhob sich eine beachtliche Beule, die gerade dabei war, ihre Farbe von fast weiß in knallrot zu verändern. Nur am oberen Ende – direkt unter dem Haaransatz – befand sich eine immer noch weiße, dreieckige kleine Delle, die von etwas herrühren musste, das sich unter dem Bord befand.

Lucas wollte sich das Bord von unten betrachten, um herauszufinden, woher diese Delle stammen mochte. Aber sobald er sich nach vorn beugte, kehrte der Schmerz spontan wieder. Ihm wurde fast schwarz vor Augen.

Betty fing ihn auf und bugsierte ihn vorsichtig zurück ins Bett. Lucas setzte an, zu protestieren.

»Aber Mam, das Spiel, die Kerzen, ich ...«

»Papperlapapp«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Du bleibst erst mal kurz liegen und machst die Augen zu. Ich bin gleich mit einem Eisbeutel zurück.«

»Aber wie komme ich denn zum Spiel? Ich habe doch versprochen, dabei zu sein.«

»Papa fährt dich hin. So spät ist es ja noch gar nicht. Deine Kerzen kannst du auch noch auspusten, wenn du wieder hier bist. Und jetzt: Sitz, Platz und Aus!«

Das sagte sie immer dann, wenn sie keine Widerrede duldete. Sie war in einer eher ländlichen Gegend aufgewachsen und ihre Eltern hatten zwei Schäferhunde gehabt – hatten sie eigentlich immer noch. Wie hießen die beiden noch mal? Luchs und ... Seine Gedanken drifteten ab.

Er war fast dabei, wieder einzuschlafen, als seine Mutter mit dem Eisbeutel auftauchte. Die Kälte erzeugte zwar zuerst erneut Schmerzen, aber dann war es richtig angenehm.

»Wo ist eigentlich Paps?«, fragte Lucas, während er den Beutel auf seine Stirn drückte.

»Der disponiert gerade um. Er bringt den Kuchen nach oben – und dein Geschenk.«

In diesem Moment hörte man auch schon jemanden die Treppe hochsteigen. Es klang, als wäre dieser Jemand recht schwer beladen.

Unter einigem Ächzen und leisem Fluchen kam sein Vater Paul ins Zimmer. Bei dem, was er trug, stellte dies geradezu eine zirkusreife Nummer dar: Unter dem einen Arm klemmte ein nur notdürftig zusammengeklapptes Teleskop. Auf der anderen Hand balancierte er einen Teller mit der Geburtstagstorte.

Das war ein Anblick, bei dem Lucas spontan grinsen musste, denn er stellte sich vor, wie sein Vater damit die Treppe heraufgekommen war.

Seine Mutter war über dieses Schauspiel allerdings weniger erfreut. Sie rief stirnrunzelnd: »Sag mal Paul, wäre es nicht besser gewesen, wenn du den Tisch gleich auch noch mit hochgebracht hättest? Vielleicht hättest du den ja auf dem Kopf tragen können. Also mal im Ernst: Muss das denn sein? Ich habe mir solche Mühe mit der Torte gegeben, und du riskierst, dass sie bei dieser Aktion runterfällt.«

»Na ja Schatz, du kennst mich doch. Lieber ein bisschen anstrengen, statt zwei Mal zu laufen.« Paul grinste verlegen und zwinkerte Lucas dabei mit einem Auge zu.

Der hatte allerdings nur noch Augen für das Teleskop. Es war von beachtlicher Größe. Wenn man es recht bedachte, so schien es fast unmöglich, dass man es sich einfach unter den Arm klemmen konnte. Es musste eine Brennweite von mindestens 900 mm haben.

Lucas war Hobby-Astronom, was allerdings ohne eigenes Teleskop recht schwierig war. Er hatte sich daher darauf verlegt, das meiste in Büchern nachzuschlagen und hin und wieder in der Sternwarte vorbeizuschauen, um die Sterne mal live erleben zu können. Aber nun ...

»Cool, Paps. Ich wette, damit kann man sogar das Auge des Jupiters erkennen«, sagte er.

»So weit hinaus willst du?«, fragte Paul. »Ich dachte, fürs Erste reicht das neue Haus um die Ecke. Die Leute sind gerade eingezogen und da ist doch so eine süße ... Auu.«

Ein Rippenstoß seiner Frau hatte ihn gestoppt. Was folgte, war eine der gutmütigen Kabbeleien, die im Haus der Frankes an der Tagesordnung waren. Lucas nahm diesmal nicht aktiv daran teil, sondern lehnte sich zurück und genoss still das Geplänkel seiner Eltern, das er so liebte. Sie warfen sich scheinbar todernste Argumente an den Kopf, verloren dabei aber nie das belustigte Glitzern in den Augen.

Dann fiel sein Blick auf die Uhr. Er stellte fest, dass er sich nun besser fertig machen sollte, wenn er es noch zum Spiel schaffen wollte.

Bei dem Spiel handelte es sich immerhin um das Semifinale im Berliner Schul-Football, an dem die Mannschaft seiner Schule teilnahm.

Nicht, dass er in diesem Team etwas zu suchen gehabt hätte. Er war nicht unbedingt der sportliche Typ: zwar recht groß, aber eher dünn und schlaksig. Er hatte Ausdauer, doch fehlte es ihm an der Art Killerinstinkt, der es den Sportlern in seiner Klasse ermöglichte, an oder über ihre Grenzen zu gehen, um die Punkte zu holen, die sie brauchten. Allerdings war er passionierter Zuschauer und feuerte seine Klassenkameraden an so oft es ihm möglich war.

Diesmal konnten sie es wirklich gebrauchen, denn sie waren noch nie so weit gekommen, und der Gegner war der Meister der letzten drei Jahre.

Also machte er sich fertig. Dann kühlte Lucas noch einmal seine Stirn, während er darauf wartete, dass sein Vater den Wagen aus der Garage holte.

Die Fahrt zum Stadion dauerte eine Weile. Also hatte er noch Gelegenheit, die Augen zu schließen und seinen Schmerzen beim Abklingen zu helfen. Als Paul ihn besorgt ansprach, erwiderte er nur, dass er schließlich seine Kräfte beisammenhalten müsste. Dann waren sie da.

Sein Vater verabschiedete sich von Lucas und fuhr nach Hause – nicht ohne vorher noch einmal einen prüfenden Blick auf die Beule zu werfen. Diese war jedoch durch das Kühlen nicht so extrem gewachsen, wie es erst den Anschein gehabt hatte.

Lucas winkte kurz. Dann wandte er sich in Richtung der Kabinen. Er wollte seine Freunde vor dem Spiel treffen, denn zwischen den vielen Zuschauern rund um das Feld würde er später sicherlich nicht erkannt werden. Er trat durch die Tür und sofort gab es ein großes Hallo über seine "Kopfverletzung". Alle hatten den einen oder anderen Scherz auf seine Kosten parat.

Nur Erik, sein ältester Freund, verschonte ihn damit, wofür Lucas ihm dankbar war, denn durch das ganze Gejohle kehrten seine Kopfschmerzen wieder zurück. Erik fragte ihn nur, ob alles in Ordnung sei. Als Lucas dies bejahte, musterte er ihn noch einmal und drückte ihm dann ein Coldpack aus dem Erste-Hilfe-Kasten in die Hand.

Während Lucas, nun wieder seine Beule kühlend, den Weg zu seinem Platz einschlug, musste er an Erik denken.

Als Person war dieser von einem krassen Gegensatz geprägt: Er hatte ein eher rundes Gesicht mit vielen Sommersprossen, das normalerweise von einer Nickelbrille geziert wurde. Seine rotblonden Haare waren glatt nach unten gekämmt und vermittelten den Eindruck, dass er seine Frisur durch einen auf den Kopf gestülpten Topf erhielt, um dessen Rand einfach herumgeschnitten wurde. Wen dieser Anblick jedoch dazu verleitete, auf dem vermeintlichen Muttersöhnchen herumzuhacken, der konnte schnell sein blaues Wunder erleben. Als amtierender Jugendmeister seiner Gewichtsklasse im Karate wusste Erik, seine zweifellos vorhandene Kraft auch entsprechend einzusetzen. Darüber hinaus war er auch noch einer der besten Schüler in der Klasse. Vielleicht war es gerade diede Tatsache, dass er seine Fähigkeiten nicht – wie so viele seiner Altersgenossen – quasi auf einem Schild vor sich hertrug, die ihn Lucas so sympathisch machte.

Schließlich war er auf seinem Stammplatz unten direkt am Feld auf Höhe der 50-Yard-Linie angekommen. Mit einem leisen Seufzer ließ er sich auf die Bank fallen.

Die meisten Umsitzenden musterten nur kurz seine Beule, bedachten ihn mit der einen oder anderen Aufmunterung. Dann wandten sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Spielfeld zu, denn dort fand gerade der Einmarsch statt. Es handelte sich zu einem großen Teil um die Freundinnen der Spieler seiner Schulmannschaft oder um nicht eingesetzte Cheerleader.

Nur Ines, ein Mädchen aus seiner Klasse, stand von ihrem Platz auf und setzte sich neben ihn.

»Hey, was hast du denn gemacht? Das sieht ja finster aus.«

»Alles halb so schlimm«, sagte Lucas in dem Versuch, neben all den Athleten auf dem Spielfeld möglichst nicht allzu uncool zu wirken. »Hab beim Aufstehen mein Bücherregal mitgenommen …«

Der Anflug von Coolness, der ihn gerade noch umgeben hatte, schwand mit einem Mal, und er kam sich ziemlich dumm vor.

Zu seiner Überraschung fing Ines nicht laut zu lachen an, was ihm angesichts des eben Gesagten durchaus legitim vorgekommen wäre. Sie grinste nur kurz und sagte: »Dein Zimmer scheint ja eine interessante Aufteilung zu haben.«

Sie stand wieder auf und setzte sich zurück zu ihrer Freundin, mit der sie das Spiel ansah.

Lucas sah ihr nach und ärgerte sich über sich selbst. Von allem, was er vielleicht hätte sagen können, war ihm spontan das Dämlichste eingefallen, was man sich vorstellen konnte. Und selbst dann hätte er noch …

Ein Aufschrei der Menge unterbrach seine Gedanken. Er wandte sich schnell dem Spielfeld zu, auf dem seine Leute gerade dabei waren, einen Touchdown zu machen.

Das Spiel brachte ihn schnell auf andere Gedanken, da eine packende Szene die nächste jagte, sodass er automatisch voll in seiner Rolle als Fan aufging.

Das erste Quarter war fast vorüber, als die Kopfschmerzen anfingen.

So etwas hatte er noch nie erlebt. Es war nicht die Art von Kopfschmerzen, die er bisher kennengelernt hatte: dumpf dröhnend oder hin und wieder auch mal ein kurzes Stechen. Nein, es war, als ob glühende Blitze zwischen seinen Ohren hin und her fegten. Er glaubte fast, den Schmerz regelrecht hören zu können, während dieser sich zischend einen Weg durch sein Gehirn bahnte.

Lucas sank leicht auf seinem Sitz zusammen. Nach kurzer Zeit meinte er, einen Zusammenhang ausmachen zu können: Die Schmerzen schienen immer aus der Richtung zu kommen, wo am lautesten geschrien oder geklatscht wurde. Als Erik – er erkannte ihn nur noch undeutlich durch einen Schleier aus Tränen, die ihm mittlerweile über das Gesicht liefen – dann einen weiteren Touchdown erzielte, und die um ihn herum Sitzenden schreiend aufsprangen, wurde ihm kurz schwarz vor Augen.

Lucas sprang auf und rannte rücksichtslos auf den nächsten Ausgang zu, nicht auf die verständnislosen Blicke der anderen achtend. Schließlich war er aus dem Stadion heraus. Dort hockte Lucas sich japsend an eine Mauer. Er presste beide Hände fest auf die Ohren. Plötzlich verschwanden die Schmerzen so abrupt, wie sie gekommen waren. Er sah sich um und stellte erleichtert fest, dass wohl niemand das seltsame Schauspiel beobachtet hatte.

Lucas erhob sich vom Boden und trottete langsam auf den Ausgang zu. Er entschied sich dazu, den anderen später zu erzählen, was vorgefallen war. Nach kurzem Suchen fand er eine Telefonzelle und rief seine Eltern an. Er erzählte ihnen zwar nichts von den seltsamen Schmerzen, bat aber darum, dass Paul ihn abholte, da ihn das Spiel aufgrund seiner Beule doch zu sehr anstrengte.

»Das war vernünftig von dir«, sagte Paul, als er ihm half, ins Auto einzusteigen.

»Vernünftig? Wieso?«, wollte Lucas wissen.

»Du siehst aus wie ein Teller bunte Knete. Ich finde es gut, dass du es nicht übertrieben hast und wir dich vielleicht noch aus dem Krankenhaus hätten holen müssen.«

»Also Paps, jetzt übertreibst du aber«, sagte Lucas, musste dabei aber daran denken, wie knapp das wohl wirklich gewesen war.

Jetzt fühlte er sich eigentlich schon wieder richtig gut, nur dass Paul das Autoradio so laut aufgedreht hatte, störte ihn ein wenig. Lucas wollte seinen Vater schon darauf ansprechen. Als er aber aus dem Augenwinkel heraus den Regler am Radio sah, stellte er fest, dass dieser sogar niedriger als sonst eingestellt war. Also ließ er die Frage bleiben, wunderte sich aber trotzdem darüber, warum er die Lautstärke als nervtötend empfand.

Zu Hause angekommen stiegen sie beide aus dem Wagen. Lucas bemerkte sofort einen unverkennbaren Geruch, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

»Sag mal, hat Mam etwa Ente zum Essen gemacht?«, wollte er wissen.

»Kann sein«, antwortete sein Vater achselzuckend. Er sog hörbar die Luft durch die Nase ein schüttelte dann aber den Kopf.

Lucas hatte sich nicht getäuscht. Als sie die Tür öffneten, duftete es im ganzen Haus nach Entenbraten. Sie setzten sich direkt an den Tisch, wo bereits das restliche Essen darauf wartete, auf die Teller verteilt zu werden. Schließlich kam auch das Hauptgericht; fein zerteilt auf einer großen Platte.

Lucas nahm sich eine Keule. Als er sie auf seinen Teller legen wollte, hatte er das Gefühl, zum ersten Mal in seinem Leben zu sehen, wie wunderschön gebratenes Fleisch aussieht. Es changierte in den herrlichsten Brauntönen. Dann stieg ihm der wundervolle, würzig-aromatische Duft in die Nase. Hatte er schon jemals etwas so unglaublich Gutes gerochen?

Er konnte sich nicht beherrschen. Anstatt die Keule wie alle anderen auf seinen Teller zu legen, biss er herzhaft hinein. Was dann geschah, hätte Lucas nie erwartet. Das feine Aroma von herrlich aufeinander abgestimmten Kräutern, Salz und sogar einem Hauch von Karamell explodierte förmlich auf seiner Zunge und ließ ihn wohlig aufstöhnen.

»Wow, Mam«, entfuhr es ihm. »Sowas Köstliches habe ich noch nie gegessen. Ist das ein neues Rezept?«

Im Raum herrschte Stille.

Lucas öffnete die Augen und bemerkte dabei überhaupt erst, dass er sie geschlossen gehabt hatte. Er sah seine Eltern an, die ihn ihrerseits mit einem erstaunten Gesichtsausdruck anstarrten.

Dann fing Betty an zu prusten. Als Lucas bewusst wurde, wie seine Aktion von eben auf sie gewirkt haben musste, da konnte auch er nicht mehr an sich halten. Zusammen lachten sie, bis ihnen die Tränen kamen.

Danach nahm sich jeder etwas Ente und begann zu essen. Während des Essens unterhielten sie sich über das Spiel und das, was für den heutigen Tag noch geplant war.

Lucas bekam von der Unterhaltung jedoch nicht besonders viel mit. Er musste sich immer wieder daran hindern, angesichts der verschiedenen Speisen in ähnliche Entzückensschreie auszubrechen, wie es ihm bei dem ersten Stück Ente passiert war. Als sie alle genug gegessen hatten, sagte er seinen Eltern, dass er sich doch einen Moment aufs Ohr legen würde, denn er fühlte sich ziemlich kaputt.

Oben in seinem Zimmer angekommen öffnete er das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Außerdem mochte er es, ein wenig zu dösen, während draußen im Garten die Vögel zwitscherten.

Er legte sich auf sein Bett und schloss die Augen – nur um sie kurze Zeit später wieder zu öffnen und das Fenster zu schließen. Die Vögel gaben sich heute wirklich alle Mühe. Man hatte glatt das Gefühl, sie hätten sich allesamt dazu verabredet, auf dem Apfelbaum, der neben seinem Fenster stand, ein Konzert zu geben. Oder lag es an seinen Ohren? Immerhin hatte ihm ja auch das Geschrei im Stadion sehr zu schaffen gemacht.

Lucas zuckte hilflos mit den Schultern, bevor er sich wieder hinlegte. Aber zum Schlafen war es viel zu hell im Zimmer. Das hatte ihn doch sonst nie gestört. Hatte er es neuerdings nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit den Augen? Mit einem weiteren Schulterzucken ließ er die Jalousie herunter, legte sich in seinem nun stockfinsteren Zimmer zufrieden aufs Bett und versank schnell in tiefen Schlaf.

Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, als er durch ein heftiges Hämmern an seiner Tür geweckt wurde. Herein kam Betty, die fast sofort gegen etwas stieß und mit einem leisen Fluch stehen blieb.

»Junge«, rief sie. »Hier ist es ja total dunkel. Wie hast du denn ohne Licht in dein Bett gefunden?«

»Weiß nich«, murmelte Lucas. »Hab einfach einen Fuß vor den anderen gesetzt. Warum weckst du mich den jetzt überhaupt schon? Und warum hast du fast die Tür eingeschlagen?«

»Ich hab doch bloß ganz leise geklopft. Und wieso schon? Du hast immerhin drei Stunden geschlafen. Es ist jetzt Kaffeezeit, und Onkel Bert kommt gleich.«

Das weckte Lucas komplett. Onkel Bert, das bedeutete, dass auch Tante Susi und – viel schlimmer noch – Kevin bald da sein würden. Bert war nicht wirklich sein Onkel. Er war ein alter Schulkamerad seines Vaters, der aber in all seiner Liebenswürdigkeit ein derart einnehmendes Wesen hatte, dass man ihm einfach nichts abschlagen konnte. Aus diesem Grund war es auch zur Gewohnheit geworden, dass er zusammen mit seiner Frau Susann und seinem inzwischen 15-jährigen Sohn Kevin zu jeder Familienfeier kam, und zwar egal ob nun wirklich gefeiert wurde oder nicht. Sie waren alles in allem ziemlich anstrengend. Aber da sie auch immer dann zur Stelle waren, wenn Not am Mann war, wurde meist darüber hinweg gesehen, dass sie sich selbst einzuladen pflegten.

Nur heute hätte Lucas wirklich auf sie verzichten können. Er konnte sich schon ungefähr vorstellen, was ihm Kevin, der sich genauso gern reden hörte wie Thomas Gottschalk, heute für Weisheiten zum Besten geben würde. Kevin hatte nämlich ein zu seiner gewinnenden Art passendes ansprechendes Äußeres, was ihn zu einem Mädchenschwarm machte. Er wurde auch nicht müde, seine manchmal etwas minderbemittelten Mitmenschen an seinem Know-how teilhaben zu lassen.

Und da klingelte es auch schon an der Tür. Lucas seufzte und machte sich zusammen mit seiner Mutter auf den Weg nach unten, um seine Gäste zu begrüßen. Sie kamen gerade unten an, als Bert wie ein riesiger Tanzbär durch den Eingang gewankt kam und lauthals nach seinem Geburtstagskind rief.

Lucas sagte: »Hallo Onkel Bert.«

Daraufhin wurde er in seiner Bärenumarmung gefangen. Als das beendet war, hörte Lucas schon die spitze Stimme von Susann, die ihn »ihren Süßen« nannte. Bei ihrem Ausruf zuckte Lucas unwillkürlich zusammen, denn die Worte trafen ihn wie Messerstiche – die Kopfschmerzen hatten wieder angefangen.

Susann stockte kurz – wahrscheinlich hatte sie sein Zucken mitbekommen – kam dann jedoch schnell zu ihm und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, wobei sie die Beule bemerkte. Nach einer kurzen Aufmunterung ließ sie ihn mit Kevin allein und murmelte dabei verschwörerisch grinsend etwas von »Jungsangelegenheiten«.

»Hallo Alter, Leben noch frisch?«, begrüßte ihn Kevin.

»Kann nicht besser klagen«, antwortete Lucas.

»Du siehst echt übel aus mit dem Ding da.«

»Ja, ich weiß, das habe ich heute schon von mehreren Leuten gehört.«

»Waren auch Mädels dabei? Da hättest du dich doch mal ordentlich trösten lassen können.«

»Ja klar, aber das mit dem Trösten hat leider nicht geklappt, weil …«

»Ich glaube, du machst da was falsch. Du musst einfach …«

Und schon war Kevin voll in seinem Element. Er erklärte Lucas in allen Einzelheiten, wie man eine solche Situation ausnutzen sollte. Darüber verging die Zeit, bis der Kuchen auf dem Tisch stand. Sie setzten sich alle an den Terrassentisch. Nun wurden erneut die Kerzen auf Lucas’ Geburtstagstorte entzündet, damit er sie ausblasen konnte.

Er schaffte es auch mit einem Zug, aber als danach von allen Anwesenden auf Berts Drängen hin ein Geburtstagsständchen gesungen wurde, passierte es: Durch das Dröhnen von Berts Bass zur Linken und Susanns Falsett von rechts kamen die Kopfschmerzen mit einer solchen Wucht wieder, dass Lucas erneut schwarz vor Augen wurde. Aber diesmal verlor er dabei das Gleichgewicht und kippte nach hinten.

Das Nächste, was er sah, waren die ängstlichen Gesichter der vier Erwachsenen, die sich über ihn beugten. Sie hatten ihn inzwischen auf die Couch im Wohnzimmer gebracht und ihm einen kalten Lappen auf die Stirn gelegt. Als er sich bewegte, glätteten sich ihre Sorgenfalten.

»Sag mal Luky, was machst du denn da für Sachen?«, fragte ihn Betty besorgt.

»Wieso, was war denn?«, fragte Lucas noch etwas desorientiert zurück.

»Du bist umgekippt, als wir dein Geburtstagsständchen gesungen haben«, sagte Paul, der neben Betty an der Couch hockte. »Du hast uns einen mächtigen Schrecken eingejagt.«

»Hmmja, komisch. Weiß auch nicht so genau, wieso, aber plötzlich ist, mir schwindlig geworden«, murmelte Lucas nachdenklich.

»Aber nu is ja wieder alles klar oder siehst du mich doppelt?«, dröhnte Onkel Bert von hinten.

Lucas musste unwillkürlich über die unerschütterliche Leichtigkeit des Daseins, wie es in Berts Welt nun einmal der Fall war, grinsen – auch wenn er es bevorzugt hätte, dass dieser nicht so sehr brüllen würde. Oder waren es wieder nur seine eigenen Ohren, die es so wahrnahmen?

Die Umstehenden nahmen sein Grinsen erleichtert als Zeichen seiner Besserung zur Kenntnis. Also gingen Lucas und Kevin erst einmal hoch in sein Zimmer, um sich die Zeit bis zum Abendessen zu vertreiben. Zuerst spielten sie ein wenig mit seiner Spielekonsole. Hierbei konnte Kevin es mal wieder nicht lassen, seine vorhandene – oder eingebildete – Kenntnis der verschiedenen Spiele in Form von mehr oder weniger hilfreichen Zwischenrufen während Lucas’ Spielzügen kundzutun.

Schließlich verlor jedoch Kevin die Lust am Spielen und fragte Lucas: »Was hast’n eigentlich eingefahren?«

»Geschenke ... zum Geburtstag«, fügte er aufgrund des fragenden Ausdrucks auf Lucas’ Gesicht hinzu.

»Ach so«, sagte dieser. »Hier, das Teleskop«, ergänzte er – wohl wissend, dass dies den guten Kevin kaum von den Füßen reißen würde. Der stand eher auf die Art von Geschenken, die einen Knopf zum Einschalten hatten.

»Oh, ah ja«, kam es auch prompt von Kevin zurück. »Nettes Ding. Is für deine Astrologie, oder?«

»-nomie«, verbesserte ihn Lucas automatisch, obwohl er es hätte wissen sollen, dass sich daraus vermutlich eine völlig sinnlose Diskussion ergeben würde. Er war es nur inzwischen so leid, von Leuten, die gar nicht wussten, worum es bei seinem Hobby ging, in die Schublade von Horoskopseiten gesteckt zu werden. Und so hatte sein Mund reagiert, bevor sein Verstand ihn hätte abschalten können.

»Hä?«, war dann auch logischerweise Kevins Antwort darauf.

Lucas zögerte kurz, während er abwog, ob es die Sache überhaupt wert wäre, Kevin den Unterschied zwischen Astrologie und Astronomie zu erklären. Aber dann entschied er sich dazu, es doch zu tun, da Kevin es sicherlich nicht akzeptieren würde, wenn er einer Konfrontation aus dem Weg ging. Also stellte er kurz dar, worum es sich bei den beiden Themengebieten handelte.

Kevin hörte sich Lucas’ Worte mit einem jovialen Gesichtsausdruck an, den auch Eltern manchmal aufsetzen, wenn sie ihren Dreijährigen beim mühsamen Erzählen eines Witzes zuhören.

»Na ja, wie auch immer«, gab er schließlich zur Antwort und fingerte am Teleskop herum. »Mit dem Ding kann man also ganz schön weit gucken. Is das nur für den Himmel oder kann man das auch für richtige Beobachtungen benutzen? Ich hab da vorhin beim Kommen so ne niedliche kleine Schnalle gesehen, die sich ein paar Häuser weiter auf dem Balkon gesonnt hat. Vielleicht möchte die uns ja mal was zeigen.« Er grinste und suchte mit dem Teleskop die Umgebung ab.

Eine Welle von Abscheu überkam Lucas, als er dies hörte. Genau genommen war es zwar ungefähr das, was auch Paul scherzhaft heute Morgen angedeutet hatte. Nur aus Kevins Mund klang die Sache so widerlich, dass es Lucas geradezu schüttelte.

In diesem Moment rief Kevin jedoch bereits: »BINGO, die kleine Lady zeigt sich für uns von ihrer besten Seite. Komm und sieh dir das an!«

Lucas sprang von dem Stuhl, auf dem er bis eben noch gesessen hatte. Er war mit einem Satz bei Kevin – allerdings nicht um seinen Fang zu begutachten, wie dieser dachte, sondern um dieser ekligen Vorstellung ein Ende zu machen.

Aber es war schon zu spät: Die abendliche Sonne hatte sich auf der Linse des Teleskops gespiegelt und so das Mädchen, das eben noch auf dem Balkon gelegen hatte, darauf aufmerksam gemacht, was ein paar Häuser weiter vor sich ging. Wüst schimpfend war sie denn auch aufgesprungen und in ihrem Zimmer verschwunden. Lucas hatte sie dabei – auch ohne Teleskop – erkennen können.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube: Es war Ines!

Eine Wut, wie er sie noch nie erlebt hatte, brandete in ihm auf und brach sich ihre Bahn.

Er schrie: »Lass das sein du Schwein!« Dabei gab er Kevin einen heftigen Stoß.

Dieser Stoß hatte allerdings eine Wirkung, die sich Lucas in seiner Wut zwar ausgemalt, aber nicht wirklich beabsichtigt hatte.

Kevin flog quer durchs Zimmer. Er landete mit einem lauten Krachen an der Tür, die durch die Wucht des Aufpralls sofort aufsprang. Er rappelte sich schreiend auf und stolperte die Treppe hinunter zu seinen Eltern. Noch ehe es Lucas überhaupt geschafft hatte, seine Verwunderung über das eben Geschehene zu überwinden und die Treppe ebenfalls hinab zu steigen, hatte Kevin – immer noch schreiend – seine Eltern dazu bewegt, sich anzuziehen und zur Tür hinaus zu gehen.

Als er gerade unten ankam, hörte er nur noch, wie Onkel Bert, in der Haustür stehend, mit seinem Vater sprach.

In einem Tonfall, der zeigte, dass er mit dieser Situation überhaupt nichts anzufangen wusste, sagte er: »Also ich versteh ja jede Menge Spaß, aber ich glaub, euer Sohn hat doch ein Ding weg bekommen, als er gegen das Brett geknallt ist. Ihr solltet den mal untersuchen lassen.«

Die Tür fiel ins Schloss. Seine Eltern drehten sich mit einem völlig verdatterten Gesichtsausdruck zu ihm um.

Lucas wollte es ihnen erklären: Kevin, das Teleskop, das Mädchen – Ines (O mein Gott, Ines!). Aber alles, was er hervorbrachte, war ein undeutliches Gurgeln. Dann war seine Kehle wie zugeschnürt.

Paul brachte ein gequältes Lächeln zustande und sagte: »War wohl doch alles ein bisschen viel. Willst du noch was essen?«

Lucas schüttelte den Kopf.

»Willst du gleich ins Bett?«, fragte Betty.

Lucas nickte. Er drehte sich langsam um und war dabei wieder in sein Zimmer zu gehen, als er seinen Vater murmeln hörte: »Hat wohl ein Ding weg ...   Solltet ihn untersuchen lassen … Der spinnt wohl, dieser zahnlose …«

»Paul, halt’s Maul!«, bellte Betty.

Sein Vater machte ein Geräusch wie ein getretener Hund. Lucas fuhr herum. Er starrte seine Eltern an. Beide starrten mit einem Gesichtsausdruck, der gleichzeitig Schreck und Unverständnis widerspiegelte, zurück.

Dann sagte seine Mutter geistesabwesend: »Vielleicht sollten wir jetzt besser alle ins Bett gehen.«

Lucas nickte verstört, drehte sich wieder herum und schlurfte in sein Zimmer. Er fühlte sich zum Umfallen müde – kein Wunder, bei all den seltsamen Dingen, die an diesem Tag geschehen waren. Aber Lucas fand lange Zeit keinen Schlaf, sondern grübelte über das, was er gesehen hatte, nachdem er sich zu seinen Eltern umdrehte. Er fragte sich wieder und wieder, ob er sich nur getäuscht hatte.

Die Augen seiner Mutter – sie hatten nicht belustigt geglitzert.

Ab in die Ferien

ie nächsten Tage verliefen vergleichsweise ereignislos. Lucas’ Eltern erwähnten die Sache mit keinem Wort. Er war ihnen dankbar dafür, denn er hatte wirklich keine Lust die Situation in Gedanken nochmals zu durchleben –  ganz zu Schweigen davon, sie Erwachsenen, auch wenn es seine Eltern waren, zu erzählen. Wenn er jedoch in der Schule Ines über den Weg lief, versuchte er meistens möglichst unauffällig zu wirken. Lucas wusste zwar nicht, ob sie ihn damals erkannt hatte, wollte es aber auf keinen Fall zu einer Konfrontation kommen lassen, erst recht nicht in der Schule.

Das Schuljahr neigte sich schließlich seinem Ende zu. Damit würde auch eine der ersten großen Veränderungen in seinem Leben auf Lucas zukommen: der Wechsel an die Oberschule.

Er hatte sich zusammen mit seinen Eltern die eine oder andere Schule angesehen. Sie hatten sich letztendlich zusammen für ein in nicht allzu großer Entfernung gelegenes Gymnasium mit gutem Ruf entschieden. Außer Lucas würden dort auch noch einige seiner bisherigen Klassenkameraden zur Schule gehen, was ihm den Wechsel als nicht so schlimm erscheinen ließ.

Lucas’ Eltern hatten sich für die Sommerferien eine Rundtour durch Italien ausgedacht.

Als Lucas sie darauf ansprach meinte Paul augenzwinkernd: »Na, ist doch wohl klar. Wir wollen unsere Dreisamkeit noch einmal so richtig auskosten. Wer weiß, ob du im nächsten Jahr noch mit Mama und Papa in den Urlaub fahren willst, jetzt wo du ein ‘großer Junge’ bist.«

Lucas sah seinen Vater verständnislos an.

»Dreizehn ist ein wichtiges Alter«, meinte Betty träumerisch.

»Ähm, wieso?«, fragte Lucas.

»Weiß auch nicht«, antwortete sie stirnrunzelnd. »Da war was. Irgendwie bin ich immer der Meinung gewesen, dass es ein besonderes Alter ist.«

»Hat wohl damit zu tun, dass du jetzt ein Teenager bist«, sagte Paul mit feierlicher Miene. »Mein Sohn. Auch wenn du es noch so sehr möchtest. Es führt leider kein Weg daran vorbei, dass du kein Kind mehr bist.«

Lucas wollte etwas entgegnen, aber da prustete Betty schon hinter seinem Rücken los und er konnte nicht anders als mitzulachen.

Dann war es endlich so weit: Direkt nach der Zeugnisausgabe ging Lucas nach Hause und half seinen Eltern bei den letzten Vorbereitungen. Das Auto, mit dem sie die nächsten drei Wochen durch Italien gondeln würden, war schon fertig gepackt. Es ging nun nur noch darum zu überprüfen, ob auch an alles gedacht worden war.

Kurze Zeit später saßen sie alle drei zusammen im Wagen und rollten auf die Autobahn. Das erste große Stück der Fahrt verschlief Lucas auf dem Rücksitz. Er empfand die Lautstärke zwar zunächst als etwas störend. Einen Moment lang wunderte er sich darüber, warum ihm der Lärm nicht schon früher aufgefallen war, aber schließlich übermannte ihn die Monotonie der Autobahn.

Er wachte erst auf, als sie ihren Übernachtungsstopp kurz vor der österreichischen Grenze erreichten. Nach dem Abendessen stellte Lucas zur eigenen Verwunderung fest, dass er schon wieder müde war. Also ging er gleich ins Bett, während sich seine Eltern noch auf einen Drink in die Hotelbar begaben.

Während der folgenden Tage fuhren sie – mal über die Autobahn, mal über Landstraßen – kreuz und quer durch Italien. Mal gab es Kultur und mal Sonnenbaden. Dabei verloren sie jedoch nie ihr eigentliches Ziel aus den Augen: Innerhalb der ersten Woche wollten sie Apulien am Sporn des italienischen Stiefels erreichen. Paul hatte für diese Region zwei Tipps von einem Bekannten erhalten, der dort schon mehrfach Urlaub gemacht hatte. Nummer eins war ein landestypisches Hotel mit Familienanschluss, von dem der Bekannte immer geschwärmt hatte. Als Alternative war noch eine neue traumhafte Anlage direkt am Meer genannt worden.

Dort angekommen mussten sie aber erschreckt feststellen, dass Familienanschluss in diesem Fall wörtlich zu nehmen war: So hätten sie sich unter anderem das Bad mit der Wirtsfamilie teilen müssen, was sowohl Lucas als auch seine Eltern freundlich aber bestimmt ablehnten.

Leider erwies sich auch Plan B als Pleite, denn die neue Anlage war so neu, dass sie noch gar nicht komplett fertiggestellt war. Schließlich saß Lucas zusammen mit seinen Eltern in einer Trattoria und brütete dumpf über einem Stapel Landkarten.

»Es nutzt wohl letztendlich alles nichts«, sagte Paul schließlich. »Ich denke, wir müssen uns eingestehen, dass das ein Reinfall war. Was haltet ihr davon, wenn wir der Küstenstraße noch ein wenig folgen und dann noch durch den Foresta Umbra die Biege wieder hochwärts machen?«

Er wies auf einen Punkt auf der Karte.

»Mit ein bisschen Glück finden wir wenigstens auf dem ‘Teutonengrill’ noch irgendwo ein Zimmer für den Rest des Urlaubs.«

Lucas und Betty blickten missmutig drein, denn ein Urlaub auf den fein parzellierten Stränden der Touristenhochburgen rund um Rimini war nicht unbedingt das, was sie bevorzugten. Nach einigen anderen Überlegungen sahen sie aber ein, dass dies wohl die einzige Möglichkeit sein würde, überhaupt noch etwas vom Urlaub zu haben.

Es war bereits Nachmittag, als sie weiter die Küstenstraße entlang fuhren, auf der Suche nach dem Abzweig in Richtung Norditalien.

Die Landschaft, die an den Fenstern des Wagens vorbeizog, konnte man nur als traumhaft bezeichnen. Als sie aus Vieste gestartet waren, hatten sie sich noch auf Meereshöhe befunden. Jetzt hatte sich die Straße jedoch erhoben und führte an einem Steilhang entlang, sodass man hinter dem üppigen Grün der Wälder das Meer sehen konnte.

Lucas blickte traumverloren auf die schier endlose blaue Fläche, die sich in weiter Ferne am Horizont mit dem Himmel vereinigte. Plötzlich stellte sich jedoch ein Gefühl ein, das zu den sanften Bildern gar nicht passen wollte. Lucas vermutete, dass ihm durch das ständige Gekurve um die Serpentinen mehr und mehr übel wurde.

Was denn noch alles?, fragte er sich in Gedanken. Reicht es nicht, dass ich mit Helligkeit und Lautstärke nicht mehr so gut klarkomme? Muss jetzt auch noch mein Gleichgewichtssinn verrückt spielen?

»Paps, kannst du mal bitte irgendwo anhalten?«, presste er mühsam zwischen den Zähnen hervor, denn er fürchtete nun, sich jeden Moment übergeben zu müssen.

»Huch, du bist ja ganz grün im Gesicht!«, stellte Betty fest, die sich zu ihm herumgedreht hatte. »Ja, Paul, fahr doch bitte mal rechts ran. Ich müsste nämlich auch mal.«

»Was denn, schon wieder? Dass ihr Frauen immer ständig auf die Toilette gehen müsst ... Wir sind doch gerade erst losgefahren«, entgegnete Paul amüsiert. Als Fahrer machte ihm die Kurverei vermutlich nichts aus.

»Falls es dich interessiert, wir sind schon über eine Stunde unterwegs. Und wenn du schon nicht für mich anhalten willst, dann tu es doch für unser Kind – oder wenigstens für deinen Wagen, damit er nicht mit unserem Mittagessen dekoriert wird!«, schnappte Betty zurück.

»Mann, war doch bloß’n Scherz«, sagte Paul. »Da vorn ist eine Haltebucht.«

Als der Wagen zum Stehen gekommen war, sprangen Lucas und Betty aus dem Wagen und gingen in verschiedene Richtungen.

Lucas stellte spontan fest, dass die Übelkeit – nun, da er nicht mehr in dem schlingernden Wagen saß – merklich nachließ. Er wählte den Weg über die Straße hin zu einer hüfthohen Mauer, die die Grenze zum Abhang darstellte. Er lehnte sich dagegen und atmete tief durch. Dabei ließ er seinen Blick über den Wald und die Küste schweifen. Mit einem Mal entdeckte er etwas, das ihn dazu veranlasste, sich unvermittelt weit über die Steinwand zu beugen, um es genauer sehen zu können.

Mit einem Aufschrei sprang Paul aus dem Wagen und erreichte zusammen mit seiner Mutter die Stelle, wo Lucas sich eben wieder aufrichtete.

»Sag mal, bist du noch ganz richtig im Kopf? Was sollte denn die Aktion?!«, herrschte ihn Paul an.

Aber Lucas drehte sich nur freudestrahlend um und sagte: »Das isses!«

»Was ist was?«, wollte Betty wissen.

»Unser Urlaub!«, jauchzte Lucas. Er wies mit der Hand auf eine schmale Straße, die zwischen den Pinien verschwand und zu einem weiter hinten gelegenen Bauwerk führte, das stark nach einem Hotel aussah.

Ein Hotel am Meer

aul neigte sich ebenfalls über die Mauer und murmelte: »Hmmm, sieht aus, als könntest du recht haben. Wahrscheinlich führt die Straße da hin. Aber vielleicht auch nicht. Meint ihr wirklich, dass wir uns auf den Umweg einlassen sollten? Es ist doch schon ganz schön spät, und wir müssen zusehen, dass ...«

Weiter kam er nicht, denn er hatte sich beim Sprechen wieder aufgerichtet. So erblickte er Lucas und Betty, die beide wie zwei Wackeldackel nickend und grinsend nebeneinander standen.

»Na ja, dann schau mer mal. Wenn’s erst mal was für diese Nacht wird, dann brauchen wir uns wenigstens darum keine Gedanken mehr zu machen.«

Sie stiegen wieder in den Wagen und bogen an der einige hundert Meter weiter einmündenden Straße ab.

Der Begriff Straße schien in diesem Fall allerdings tatsächlich etwas übertrieben zu sein, denn es war eher eine Schotterpiste, die sich hinein in den Pinienwald wand. Als sie langsam anfingen, sich Gedanken darüber zu machen, ob das Abbiegen wirklich so eine gute Idee gewesen war, kamen sie an eine Schranke, die ihnen den Weg versperrte. Dahinter standen zwei Männer, die sie neugierig musterten.

Paul stieg aus und redete auf die beiden ein. Im Versuch, entweder durchgelassen zu werden oder wenigstens eine Information zu bekommen, ob sie auf dem richtigen Weg wären, benutzte er außerdem beide Hände.

Die beiden lächelten und kauderwelschten in ihrem Süditalienisch zurück, wobei sie mindestens ebenso stark mit den Armen in alle möglichen Richtungen wedelten.

Lucas und Betty waren inzwischen ebenfalls ausgestiegen und gesellten sich dazu.

Lucas lauschte eine Weile. Dann fragte er einen der Männer auf Italienisch: »Ist das der Weg zu dem Hotel am Meer, das wir von der Küstenstraße aus sehen konnten?«

Der Angesprochene strahlte Lucas an und nickte eifrig. Er bedeutete seinem Kollegen wortreich, dass er die Schranke öffnen und die Urlauber durchlassen solle.

Währenddessen hatten sich Lucas’ Eltern zu ihm umgedreht. Beide starrten ihn an.

»Du kannst Italienisch?«, fragte Paul.

Lucas fragte sich das in diesem Moment ebenfalls.

Natürlich hatte er nirgendwo Italienisch gelernt. Warum auch? Aber wieso hatte er eben offensichtlich das Richtige gesagt? Ein Blick auf die beiden Italiener, die inzwischen neben der offenen Schranke standen und sie erwartungsvoll anblickten, bestätigte ihm dies. Also sagte er das Erste, was ihm in den Sinn kam.

»Hab ich mal irgendwo im Fernsehen gehört. Scheint ja auch geklappt zu haben«, sagte er achselzuckend und setzte sich wieder ins Auto. Innerlich empfand er die gleiche Fassungslosigkeit, wie seine Eltern sie demonstrierten.

Nach einer kurzen Wegstrecke kamen sie zu einem Parkplatz, wo sie ihren Wagen stehen ließen und zur Rezeption gingen. Dort stellte sich zu Lucas’ Erleichterung heraus, dass der Pförtner durchaus Deutsch verstand und auch sprach. So musste er nicht noch einmal ausprobieren, ob er sich wirklich auf Italienisch unterhalten konnte.

Das Hotel hätten sie sich schöner nicht wünschen können: Mehrere zweistöckige, weiß gekalkte Gebäude waren in unregelmäßigen Abständen in einen Nadelwald an der Steilküste drapiert worden. Das Haupthaus mit Rezeption, Bar, Innenhof und Restaurant befand sich direkt am Rand einer etwa 25 m hohen Klippe. Davor ragten in einiger Entfernung weitere hohe Felsen mitten aus dem azurblauen und kristallklaren Meer. Sie mussten vor langer Zeit einmal davon abgebrochen sein. Einer dieser Felsen sah tatsächlich aus wie ein Tor, durch das man in die fast grenzenlose Weite der Adria blicken konnte. Die Luft war erfüllt vom salzigen Aroma des Meeres und dem würzigen Duft des Waldes. Von überall her drang das Rauschen des Meeres und das Zirpen von Grillen an ihre Ohren.

In Lucas’ Kopf verbanden sich die Eindrücke zu einer Sinfonie aus Farben, Formen, Düften und Klängen, die ihm unfreiwillig Tränen der Rührung in die Augen trieben. Jedoch verströmte die Umgebung eine Ruhe, die nicht danach zu trachten schien, ihn zu überwältigen, sodass er es einfach nur genießen konnte.

Im Restaurant wurde ihnen ein herrliches Abendessen aus Antipasti, verschiedenen Nudelgerichten und frischem Salat serviert. Sie merkten erst jetzt, wie hungrig sie waren, und schlugen sich die Bäuche voll.

Lucas war mittlerweile so an die Geschmacksexplosionen beim Essen gewöhnt, dass es ihm immer leichter fiel, die verzückten Laute, die ihm entweichen wollten, zu unterdrücken.

Als sie im Anschluss auf ihr Zimmer geführt wurden, sahen sie, dass ihr Gepäck bereits dort war. Das Zimmer befand sich in der oberen Etage eines etwas abseits gelegenen Hauses. Zu ihrer großen Freude entdeckten sie außerdem eine riesengroße Dachterrasse, von wo sie einen fantastischen Blick über Baumwipfel und Meer hatten.

Als Lucas später auf seinem Bett lag und durch ein Fenster auf die wunderschöne Landschaft schaute, die draußen allmählich in Schatten versank, fühlte er sich unendlich glücklich und zufrieden. Um auszuschließen, dass dies alles nur ein Traum war, aus dem er wieder erwachen musste, kniff er sich kräftig in die Wange. Der sofort aufflammende Schmerz war definitiv dazu geeignet, ihn in die Wirklichkeit zurückzubringen. Leider verebbte dieser nicht wieder, sondern behielt auch Minuten später eine unangenehme Intensität.

Das kann ich so nicht lassen.

Er stand auf und ging ins Bad, um sich ein feuchtes Handtuch zum Kühlen zu holen. Wenn ihn der Schmerz nicht bereits in die Realität befördert hätte, dann wäre er spätestens beim Blick in den Spiegel dort angelangt. Das, was Lucas sah, ließ ihn vor Schreck die Augen weit aufreißen: Auf seiner rechten Wange prangte ein beachtlicher tiefroter Bluterguss. Dort, wo sich die Fingernägel in sein Fleisch gegraben hatten, befand sich sogar etwas Blut.

Verdammte Sch..., fuhr es ihm durch den Kopf. Was hab ich denn da gemacht? Hab ich wirklich so stark zugedrückt?

Aber egal, warum es dazu gekommen war, so ließ sich der Effekt doch nicht übersehen. Ein feuchtes Handtuch würde schwerlich genügen, um den Schaden, den er sich selbst zugefügt hatte, zu beheben.

Lucas blickte sich hilfesuchend um, als es klopfte.

Seine Eltern konnten das nicht sein, die hatten einen Schlüssel. Also ging er zur Tür und öffnete sie.

Draußen stand ein Zimmermädchen mit einem glänzenden Gegenstand in den Händen. Sie setzte sofort zu einem wahren Redeschwall an. Darin ging es um ihre Schwester, ihren Verlobten und eine ganze Kette von unglücklichen Umständen, die letztendlich dazu geführt hätten, dass sie es noch nicht geschafft hatte, ihnen als neuen Gästen den Willkommens-Sekt aufs Zimmer zu bringen.

Lucas versicherte ihr ebenso wortreich, dass seine Eltern ihr das nicht übel nehmen, sondern sich im Gegenteil sogar herzlich bedanken würden.

Schließlich übergab sie ihm den Sektkübel, in dem sich eine eisgekühlte Flasche befand, und verließ ihn sichtlich erleichtert.

Als er gerade die Tür geschlossen hatte, meldete sich eine Stimme aus seinem Hinterkopf: Du hast es schon wieder getan.

Was habe ich schon wieder getan?

Italienisch geredet. Du glaubst doch wohl nicht, dass die dich verstanden hätte, wenn du Deutsch gesprochen hättest. Außerdem sprach sie ja auch Italienisch.

Das hatte sie tatsächlich. Und er hatte sie verstanden. Die Erklärung, die er sich und seinen Eltern vorhin gegeben hatte, war mit einem Mal wie weggewischt. Zurück blieb nur das unbestimmte Gefühl, dass etwas in ihm vorging, was er selbst nicht unter Kontrolle hatte.

Seufzend trug Lucas den Kübel zum Tisch, wo er ihn abstellte. Dabei fiel sein Blick auf das darin langsam vor sich hinschmelzende Eis.

Bingo! Das ist wesentlich besser, als nur ein nasser Lappen.

Er nahm sich drei Eiswürfel, wickelte sie in das Handtuch, das er immer noch in der Hand hielt, und begab sich wieder ins Bett. Dort fing er an, die puckernde Wange zu kühlen, während seine Gedanken um die Seltsamkeiten des Tages kreisten. Aber dann forderte der lange ereignisreiche Tag seinen Tribut, und er versank in traumlosem Schlaf.

Der nächste Morgen dämmerte golden heran, als Lucas wieder erwachte.

Er schlug die Augen auf, sah durch das Fenster das sanfte Grün der Bäume und lächelte still vor sich hin. Dann stand Lucas leise auf. Er ging auf die Terrasse, um den Anblick der aufgehenden Sonne zu genießen. Eine Weile lang stand er einfach nur da. Wie ein Schwamm sog er den Frieden dieses Augenblicks in sich hinein, als ob er ihn dort sicher für schlechte Zeiten aufbewahren wollte. Sonnenaufgänge hatte er schon immer geliebt. Da hörte er, wie sich seine Eltern noch ein wenig schlaftrunken unterhielten, und ging wieder ins Zimmer zurück, um sich umzuziehen.

Das wunderbare Gefühl von Urlaub genießend, schlenderten sie zusammen den Weg zum Restaurant entlang, um zu frühstücken. Wiederum erwies sich die Hotelanlage als gut ausgestattet. Es gab alles, was man für einen Start in den Tag gebrauchen konnte: frisch gepressten Orangensaft, eine Auswahl von Müsli und Cornflakes, verschiedene Eiergerichte und eine große Auswahl an Brot.

Das ausgedehnte Frühstück weckte Lucas’ Lebensgeister erst so richtig. Er beschloss, sich nun den Rest des Hotelgeländes anzusehen, denn dazu hatte er gestern nach der unangenehmen Fahrerei keine rechte Lust gehabt. Er ging zur Rezeption, um nachzusehen, ob es dort so etwas wie einen Lageplan der Anlage gäbe, damit er sich besser orientieren könnte. Während er dort noch am Tresen herumstöberte, hörte er plötzlich eine Stimme, die ihm das Herz in die Kehle springen ließ.

»Nee, das ist ja‘n Ding! Lucas, was machst du denn hier?«

Lucas drehte sich langsam um. Obwohl er die Stimme auf Anhieb erkannt hatte, hoffte er doch, sich zu irren.

Vor ihm stand Ines zusammen mit zwei Erwachsenen, vermutlich ihren Eltern. Alle zusammen lächelten sie Lucas freundlich an. Das brachte sein Herz dazu, wieder ein wenig langsamer zu schlagen. Er beförderte schnell ein etwas schief geratenes Grinsen in sein Gesicht.

»Hi«, sagte er nur.

Ines und ihre Eltern werteten dies offensichtlich als Zeichen seiner Überraschung, denn sie gingen nicht weiter auf diese wortkarge Begrüßung ein. Ines stellte ihre Eltern als »Tom und Diana Bunge« und ihn als »Lucas aus meiner alten Klasse« vor.

Dann verabschiedeten sich ihre Eltern mit den Worten: »Na, dann hast du ja doch noch jemanden in deinem Alter gefunden.«

Nun waren sie beide allein und Lucas fühlte das dringende Bedürfnis, sich in eine Stehlampe oder so zu verwandeln. Er fand es zwar gut hier jemanden zu haben, mit dem man gemeinsam etwas unternehmen konnte, aber musste es ausgerechnet Ines sein? Nicht, dass er sie nicht mochte. Im Gegenteil. Ines hatte ihm von allen seinen Mitschülerinnen immer am besten gefallen. Aber als er ihre Stimme gehört hatte, war sofort wieder die Sache mit Kevin und dem Teleskop aus der Halb-Vergessenheit aufgetaucht. Er fühlte schon, wie sich seine Ohrenspitzen vor Scham röteten.

Doch in diesem Moment half Ines ihm unverhofft aus der Patsche, indem sie sagte: »Schön, dass du es bist. Ich meine, stell dir mal vor, ich hätte hier Bonzo getroffen.«

Damit verflüchtigte sich der Schock vollends, sodass Lucas nicht anders konnte, als sie strahlend anzulächeln. Nicht weil er sich freute, dass sie ihn Bonzo vorzog – dem Klassenrowdie, der ständig über alles und jeden herzog. Nein, ihre Reaktion zeigte ihm, dass Ines es nicht wusste. Sie hatte ihn nicht erkannt. Also würde er ihr jetzt nicht dafür Rede und Antwort stehen müssen. Wie dumm war er gewesen, sich die ganze Zeit über davor zu drücken, ihr über den Weg zu laufen, aber egal: Das war jetzt vorbei. Es gab doch Gerechtigkeit auf dieser Welt.

Durch sein Lächeln musste auch Ines lachen. Sie machten sich zusammen auf, die Gegend zu erkunden. Ines war bereits einen Tag vorher angekommen. Sie fuhr schon seit Jahren hierher, nur dass in diesem Jahr außer ihnen nur Eltern mit kleineren Kindern hier Urlaub machten. So lernte Lucas in den folgenden Tagen jeden Winkel der Hotelanlage kennen.

Auch seine Eltern verstanden sich gut mit Ines’ Eltern. Während diese sich tagsüber am Strand oder abends in der Bar vergnügten, ging Lucas zusammen mit Ines mehr und mehr eigene Wege. Sie verbrachten die meisten Abende damit, Spaziergänge durch die Anlage zu machen oder auf Lucas’ Terrasse zu sitzen und sich über Gott und die Welt zu unterhalten.

Nach ein paar Tagen änderte sich jedoch irgendetwas. Unmerklich zunächst, aber dann doch immer spürbarer beschlich Lucas das Gefühl, dass in Ines eine Veränderung vorgegangen war, die er nicht einordnen konnte. Es war in ihren Blicken und in der Art, wie sie sprach, ja sogar in ihren Bewegungen.

Als er einen Tag später seine Mutter darauf ansprach, lächelte sie nur und sagte: »Schön, dass du es bemerkt hast, aber an der Erkenntnis musst du wohl doch noch ein bisschen arbeiten.«

Als sie Lucas’ verständnislosen Blick auffing, ergänzte sie: »Kannst du dir das nicht vorstellen? Sie hat sich in dich verliebt, mein Großer.«

Mit dieser Information hatte Lucas nicht gerechnet. Es war ihm, als ob in seinem Kopf plötzlich zwei Lautsprecher angeschaltet worden waren, von denen jeder etwas anderes von sich gab.

Die erste Stimme jubilierte: Sie liebt dich, sie liebt dich. Das Leben ist toll ...

Die zweite Stimme hingegen sah die Sache ein wenig anders: Das kann doch nicht sein. Mam verarscht dich doch. Ines kann sich doch nicht ausgerechnet in dich verknallt haben ...

Dieser Widerstreit war ihm offensichtlich vom Gesicht abzulesen, denn Betty sagte: »Du kannst mir ruhig glauben. Ich erkenne sowas ganz gut. Sogar Papa hat schon ein paar Andeutungen in der Art gemacht.«

Das ließ die zweite Stimme in seinem Kopf verstummen. Zurück blieb nur eine seltsame Leichtigkeit. Er hatte glatt das Gefühl zu schweben. Stattdessen musste er sich setzen, weil ihm auf einmal die Knie ganz weich wurden.

»Echt jetzt? Und was nun?«

»Na was denkst du denn?«, fragte Betty lächelnd zurück.

»Das wollte ich doch gerade von dir wissen«, sagte Lucas flehentlich. In seinem Bauch machte sich spontan ein ungutes Gefühl breit. Was sollte jetzt passieren? Was würde man – was würde Ines nun von ihm erwarten?

»Nein, nein«, kam es von seiner Mutter zurück. »Ich meine magst du sie denn auch?«

»Machst du Witze? Sie ist das tollste Mädchen, das ich mir vorstellen kann«, antwortete Lucas sofort. Noch während er sprach, wunderte er sich darüber, dass er es tatsächlich jemandem erzählt hatte.

»Na dann sag ihr das auch. Deine Gedanken kann sie nicht lesen.«

»Und wie!?«, entfuhr es ihm. Panik kam in ihm auf. Wie sollte er das bloß anstellen? Bei seiner Mutter eben war ihm das so rausgerutscht. Aber sich nun vor Ines hinzustellen und ihr seine Gefühle zu offenbaren kam ihm nahezu unmöglich vor. Im Geist sah er sich wie in einem dieser alten Filme vor ihr knien. Er gestand ihr seine Liebe, woraufhin Ines aber nur mäßig interessiert lächelte, sich dann umdrehte und ihn wie einen Idioten aussehen ließ.

Lucas’ Mutter holte ihn aus diesen Träumen zurück, indem sie sagte: »Versuch jetzt am besten nichts übers Knie zu brechen. Du hast jetzt eine Idee, was das mit euch zu bedeuten hat. Um ihr aber etwas in der Art zu sagen, musst du dir erst einmal deiner eigenen Gefühle klar werden. Außerdem sollte dafür auch das Drumherum stimmen.«

»Hmmmm«, überlegte sie weiter. »Du hast doch gesagt, dass Ines dir von einer einsamen Bucht erzählt hat, die sie nie besuchen konnte, weil weil man dort nur mit einem Boot hinkommt. Das wäre jetzt vielleicht die ideale Gelegenheit, um das Schlauchboot auszuprobieren. Dann hätte es Papa nicht, wie ich ursprünglich fand, völlig unnötigerweise eingepackt. Ich denke, wenn ich ihm die Umstände schildere, dann holt er es bestimmt aus dem Wagen, auch wenn wir übermorgen schon wieder los müssen.«

Das rief Lucas fast schmerzhaft ins Gedächtnis, dass dieser Urlaub und die schöne Zeit mit Ines schon so bald enden würden.

Paul war sofort Feuer und Flamme. Er sprintete zum Auto und kam schon nach kurzer Zeit mit dem riesigen Sack zurück, in dem das Boot verstaut war. Er ließ es sich auch nicht nehmen, es sofort persönlich aufzupumpen.

Lucas war dieser verschwörerische Eifer schon fast zu viel, aber auf der anderen Seite freute er sich auch auf die Bootsfahrt. Jetzt musste er nur noch Ines von seiner Idee berichten. Er fand sie schließlich lesend am Strand und erzählte ihr, dass er seinen Vater dazu überreden konnte, das Schlauchboot doch noch in Betrieb zu nehmen.

Sie blickte ihn schelmisch über den Rand ihres Buches hinweg an und antwortete in einem übertrieben altmodischen Tonfall: »Aber mein Herr. Was sollen denn die Leute denken, wenn ich mit Ihnen ganz allein auf das Meer hinaus fahre?«

Lucas hatte das Gefühl, in voller Fahrt gegen eine Mauer zu knallen, sodass er – mit einem Mal verlegen – vor ihr stand.

»Ähm, na ja, ich hatte nur gedacht, wo du doch diese Bucht noch nie ...«

»Manno, ich hab dich doch bloß auf den Arm genommen. Klar komm ich mit. Wollen wir gleich los?«

»Äh, klar«, konnte Lucas nur noch sagen.

Warum musste das alles immer nur so kompliziert sein? Dieses ständige Hin und Her, das er von seinen Eltern eigentlich kannte, kam ihm nun, da er selbst darin einbezogen war, ganz schön anstrengend vor. Ob es seinen Eltern auch so ging? Die wirkten dabei immer so locker.

Ines war inzwischen aufgestanden und hatte ihre Sachen in einem Rucksack verstaut. Gemeinsam mit Paul, der vom Aufpumpen des 2-Mann-Bootes immer noch ziemlich kaputt war, hievten sie es ins Wasser. Ines stieg ein, Lucas schob es vom Strand weg und sprang dann auch hinein. Er schnappte sich die beiden Ruder. Dann sah er Ines erwartungsvoll an.

»Ja? Was denn?«, fragte sie.

»Weißt du, wo’s langgeht?«

»Ach so, natürlich. Wir müssen uns links an der Felswand entlang halten, dann sollten wir sie in ein paar Minuten sehen.«

Lucas ruderte los. Für eine Weile saßen sich die beiden einfach nur still gegenüber und genossen den Augenblick. Das Boot glitt sanft über die fast spiegelglatte Oberfläche des kristallklaren Meeres. Über ihnen wölbte sich ein unbeschreiblich blauer Himmel, an dem hin und wieder Möwen vorbeizogen. Es dauerte nicht lange, da zeigte Ines auf einen Punkt hinter Lucas.

»Sieh mal. Das muss sie sein.«

Er drehte sich um und sah in einiger Entfernung einen Rücksprung in der zerklüfteten Steilküste. Dieser bildete eine Öffnung, die groß genug für eine Motoryacht war. Mitten darin befand sich ein aufgetürmter Haufen aus großen Felsen, die wie Bauklötze aussahen, die ein Riesen-Kind nach dem Spielen vergessen hatte. Die warme Nachmittagssonne schien in die verlassene Bucht. Bis auf das Plätschern der Ruder und den vereinzelten Schrei einer Möwe war nichts zu hören.

Lucas fühlte sich plötzlich wie ein großer Entdecker oder ein Schiffbrüchiger, der endlich das rettende Gestade entdeckt. Er musste sich den typischen Schrei »Land!« geradezu verkneifen, ruderte aber trotzdem schneller.

Es dauerte nicht lange, da waren sie am Strand der Bucht angekommen. Dort zogen sie das Boot ein Stück aus dem Wasser, setzten sich dann in den Sand und sahen sich um.

»Wow, jetzt weiß ich endlich, was ich in den ganzen Jahren verpasst habe«, brach Ines das Schweigen.

»Hmmja, wie im Paradies«, antwortete Lucas.

»Na dann gib mir mal nen Apfel, Adam.«

Lucas schoss sofort die Röte ins Gesicht. Hieß das jetzt ...? Wollte sie ...? Verdammt, warum musste das nur alles immer so schwer zu verstehen sein?

Ines schien seine Reaktion bemerkt und auch die Gedanken, die durch seinen Kopf geschossen waren, zumindest teilweise erraten zu haben, denn sie wurde ebenfalls rot. »Ich meinte einen Apfel aus dem Picknick-Korb«, sagte sie verlegen grinsend. Sie zeigte auf den Behälter, der hinter Lucas stand.

Die Situation war so absurd, dass beide mit einem Mal losprusteten. Lucas zog – immer noch lachend – den Korb zu sich heran. Er holte für Ines einen Apfel und für sich eine Banane heraus. Als er dies tat, fing Ines erneut an, prustend zu lachen und er ließ sie wieder fallen. Stattdessen nahm er sich ein paar Trauben.

Ihre Blicke trafen sich. In diesem Moment wunderte sich Lucas darüber, warum ihm das jetzt überhaupt nicht peinlich war. Er hatte glatt das Gefühl, dass er sich ihr gegenüber tatsächlich offenbaren konnte.

Wieder einmal fing Ines seine Stimmung erstaunlich gut auf.

»Ist echt witzig. Eigentlich müsste ich jetzt im Boden versinken, aber es macht mir gar nichts aus.«

»Stimmt«, antwortete Lucas. »Ist wirklich witzig ... sag mal, ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber ich ...«

Weiter kam er nicht, denn Ines war im gleichen Moment aufgesprungen und rief – bereits auf den in einiger Entfernung liegenden Felshaufen zurennend – über die Schulter: »Wer zuerst oben ist!«

Lucas starrte ihr hinterher. Eben noch war alles so einfach gewesen und nun das. Seufzend erhob er sich und rannte grübelnd hinter Ines her. Warum hatte sie das getan? Hatte er richtig gesehen? Ihm war so, als ob er in ihren Augen so etwas wie Angst aufblitzen gesehen hatte.

Zusammen mit Ines erreichte er die Felsen. Sie kletterten, so gut es ging, daran hoch. Lucas war gerade dabei, Ines zu überholen, als sie plötzlich anhielt und rief: »Boah, schau mal da!«

Lucas sah in die Richtung, die ihre Hand wies und erkannte, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.

Inmitten der Felsen war eine von unten nicht sichtbare Lücke, durch die eine Art Becken entstand. Dieses schien eine Verbindung zum Meer zu haben, denn das Licht, das die Nachmittagssonne auf das Meerwasser fallen ließ, drang von unten in das Becken. So erstrahlte das Wasser dort in einer leuchtenden Mischung aus Türkis und Violett. In diesem so außergewöhnlich illuminierten Bereich tummelten sich aberhunderte kleine Fische, die mit ihren silbernen Leibern glitzernde Reflexe in das Wasser zauberten. Die ganze Szenerie wirkte, als ob sie durch ein Fenster in eine völlig andere Welt blicken könnten.

Entzückt machte Ines Anstalten, hinunterzuklettern, aber Lucas hielt sie zurück.

»Ich glaub nicht, dass das eine gute Idee wäre. Das geht da so steil runter. Da kommt man bestimmt nicht mehr richtig hoch«, bemerkte er, als er ihren verärgerten Blick sah.

Ines wirkte zwar enttäuscht, nickte dann aber und folgte Lucas auf den obersten Felsen.

Von dort konnte man eine weitere, noch kleinere Bucht erkennen, die im Gegensatz zu der, in der sie gelandet waren, einen ganz feinsandigen Strand hatte. Eigentlich war es nur eine vom Meerwasser ausgewaschene Höhlung in der Klippe, aber sie lag noch ganz im Sonnenschein. Daher beschlossen sie, herunterzuklettern und sich dort ein wenig zu sonnen.

Die ganze Zeit über rang Lucas innerlich mit sich. Wie sollte er es bloß anstellen, das zu sagen, was er schon die ganze Zeit sagen wollte? Immerhin war diese Höhle so klein, dass Ines nun kaum noch Möglichkeiten haben würde, wieder aufzuspringen und wegzurennen. Sie konnte höchstens ins Wasser springen. Schließlich kam er zu dem Schluss, einfach anzufangen und zu sehen, was dabei herauskam.

»Ähm, ich wollte dir unbedingt ...«, begann er, doch er kam wiederum nicht weit, denn ein rasches »Warte!« von Ines bremste ihn aus. Sie hatte sich ihm gegenüber kerzengerade aufgesetzt und sah ihm in die Augen.

»Bevor du jetzt das sagst, von dem ich glaube ... hoffe ... fürchte, dass du es sagst, habe ich nur eine Bitte. Sei ehrlich, egal was es ist. Ich kann auch damit klarkommen, wenn es nicht das ist, was ich denke oder will, solange es ernst gemeint ist.«

Dann blickte sie Lucas erwartungsvoll an.

In Lucas wirbelten ihre Worte herum und machten ihn ganz konfus. Hatte sie »hoffe« gesagt? Ja, das hatte sie, aber sie hatte auch »fürchte« gesagt. Und sie hatte gesagt: »Sei ehrlich!«

Und da war es wieder. Das Gefühl, das ihn beschlichen hatte, als er ihre Stimme hier zum ersten Mal gehört hatte. Nun jedoch war es zu einer Gewissheit geworden. Er musste da jetzt durch und zuallererst musste er ihr die Sache mit dem Fernrohr erklären. Entweder würde sich alles andere dann sowieso erledigt haben oder er hätte freie Bahn, Ines mit gutem Gewissen zu sagen, was er für sie empfand.

»Ja, gut«, begann er, während er im Kopf noch die Worte ordnete, die er gleich sagen wollte. »Es ist schon eine Weile her. Vielleicht erinnerst du dich noch daran.«

Ines’ Augen blickten ihn an. Sie sah nicht wütend aus, dachte Lucas. Er begann, zu hoffen, dass sie sich möglicherweise doch nicht mehr erinnern konnte oder es sie gar nicht interessierte.

»Na ja, also zu meinem ...«

»Ciao ragazzi!«, tönte es über das Wasser zu ihnen hin. Ines sog erschreckt die Luft ein und Lucas verschluckte sich mitten im Satz.