Karl May - Hans Wollschläger - ebook

Karl May ebook

Hans Wollschläger

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Opis

Die legendäre Karl-May-Biographie von Hans Wollschläger - ein Klassiker des Genres. Bis Mitte der sechziger Jahre war der Name Karl May nur noch durch die kommerzielle Ausschlachtung als "Jugend- und Volksschriftsteller" wahrnehmbar. Dies änderte sich 1965 mit dem Erscheinen von Hans Wollschlägers biographischer Pionierarbeit, in der die abenteuerliche Existenz des Großschriftstellers May in eindrucksvoller Detailfülle geschildert wird. Direkt aus den Quellen rekonstruiert Wollschläger in dieser mittlerweile zum Klassiker avancierten Biographie den bizarren Lebensweg eines Außenseiters, der wegen seines schwachen Realitätssinns immer wieder in verhängnisvolle Konfrontationen mit seiner sozialen Umwelt geriet - sei es mit skrupellosen Verlegern oder mit parteilicher Justiz und Publizistik. Der brillante Stil und die beeindruckende Sprachmächtigkeit Wollschlägers wurden seinerzeit selbst vom gestrengen Arno Schmidt gelobt, der die Biographie nicht zuletzt auch wegen der "ununterdrückbaren Fähigkeit des Verfassers zu eleganten Formulierungen" dringend empfahl. In ihrer Exaktheit und Zuverlässigkeit ist diese lange vergriffene "Gründungsurkunde der neueren Karl-May Forschung" auch heute noch unentbehrliche Lektüre für alle, die sich mit May ernsthaft beschäftigen möchten.

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Hans Wollschläger

Karl May

Grundriß eines gebrochenen Lebens

Inhalt

Kapitel IUssulistan

Kapitel IIWaldenburg und anderswo

Kapitel IIIActa in Sachen des Rechtes ./. C.F.M.

Kapitel IVAus der Mappe eines Vielgereisten

Kapitel VSchundmacher und Poet dazu

Kapitel VI»Im lieben, schönen Lößnitzgrund…«

Kapitel VIILe Bourgeois Gentilhomme

Kapitel VIIIOrmasd und Ahriman

Kapitel IX»… die Gebilde einer unbekannten Atmosphäre…«

Kapitel XAm Tode

Kapitel XI›Patronen‹ gegen ›Patrone‹

Kapitel XIIEin Schundverlag und seine Helfershelfer

Kapitel XIIIThe Dark and Bloody Grounds

Kapitel XIV»Autor frommer Bücher – ein Bandit«

Kapitel XVIns Rosenrote

Anhang

Quellen und NachweiseBibliographie

Register

Kapitel I

Ussulistan

Schon einer der Urahnen in der siebenten Vorgeneration, Andreas Stephan (1666–1719), war Webermeister in Ernstthal; Weber waren fast alle Vor- und Vorvoreltern; Weber war der Vater[1]. Von ihrem Dahinleben ist wenig aufbewahrt; selten währte es siebzig Jahre, oft sehr viel kürzer, und daß es köstlich gewesen wäre, ist so sicher nicht, wie es der plaudernde Feinsinn gern der pausenlosen Arbeit nachsagt; – ein paar trockene Sätze im Kirchenbuch, keine Briefe, keine Bilder. Zuletzt bleiben von ihnen allen nur die eckigen Daten ihres Auftritts und Abgangs von der tristen Bretterbühne, auf der das immer gleiche vor sich ging: Intraden ohne Glanz – die dürftige Dorfpantomime immer stummer Rollen, deren letzte Hantierung noch vom grau sausenden Webstuhl bestimmt ist – Exit ins Dunkel. Das Erbe, das aus solchen Generationen auf den Letzten der Familie sich ablagerte, wiegt schwer, und wenn er sich später auch empört dagegen verwahrte, daß man ihn atavistischer Schwachheiten[2] zeihe, so erklärt sich doch so manche Bruchstelle im wunderlichen Gewebe seines Lebens aus der trüben Provenienz der Fäden, die darin zusammenliefen: nicht nur die Revolution des Unteren, die in ihm heraufkam; das verkrüppelte Rechtsbild der vom Recht sehr lange Vergessenen; – auch der gestaute Kräfteschub derer, die selber nichts zu stiften vermochten, was geblieben wäre; und aus der Schwermut der Vergeblichen die singuläre Anstrengung selbst, die sie durchbrach und aufhob. So hat er das Muster, wie es, mit durchaus schlimmen Vorzeichnungen, auf ihn kam, dann doch zum guten Ende gebracht, und aus dem langen, öden Vorgang der von Tritten geregten, endlos ungesehen geflossenen Fäden, der von Schlägen geschlagenen Verbindungen, der herüber und hinüber schießenden Schifflein ist noch so etwas wie ein Weber-Meisterstück gekommen – ein bizarres, misch-maschiges, knotig bedeutendes aber doch im desolaten Dessin – und er selbst im besten Sinne der Letzte seines Stammes geworden: Ijar, der im ganzen Morgenlande bekannte Teppichweber …[3]

Ernstthal, eine kleine Stadt in der sächsischen Kreisdirektion Zwickau, 1680 nach einer Pestepidemie zu Hohenstein gegründet, mit dem es später (1898) zusammengelegt wurde, ist ein Modellpunkt des sozialen Elends der Zeit: in dessen tiefsten Stand, ins ärmste, schmutzigste Ardistan, wird Karl Friedrich May am 25.2.1842, abends um 10 Uhr, in der Niedergasse[4] hineingeboren: fünftes von 14 Kindern, die die Mutter Christiane Wilhelmine Weise (1817–1885) zwischen dem 19. und 43. Jahr dem Heinrich August May (1810–1888) gebären muß; neun davon sterben in frühester Kindheit, nur zwei Schwestern haben den Bruder überlebt und ein hohes Alter erreicht. Von den 2630 Einwohnern ernähren sich 80 % von der Heimweberei, die seit der Blütezeit zu Beginn des Jahrhunderts unaufhaltsam niedergegangen ist und zum Existenzminimum jetzt wenig über ein Drittel beiträgt; ›Nebenberufe‹ müssen aushelfen, Schmuggel und anderes; in Scharen verlassen Auswanderer die kümmerliche Heimat, hinüber ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten; die öffentlichen Einrichtungen, etwa das Schulwesen, sind durch Schulden in Unordnung; 84 Haushalte zählt 1845 eine Akte zu den Ärmsten der Armen.[5] Mangelkrankheiten bestimmen Leben und Sterben: das, was man gegenwärtig diskret als ›Unterernährung‹ zu bezeichnen pflegt, ist wohl auch Ursache für die Erblindung des Kindes kurz nach der Geburt; sie wird erst, lange von törichten Kuren verpfuscht, im 5. Lebensjahr durch Eingreifen Dresdener Ärzte behoben.[6] Bei schimmligen Brötchen, Unkrautsuppe und Kartoffelschalenabsud gedeiht nicht eben mehr als ein »Kellerkeim von Junge«[7], ein krankes, schwaches Kind, welches noch im Alter von sechs Jahren auf dem Boden rutschte, ohne stehen oder gar laufen zu können[8], gedeiht aber um so mehr das Verlangen nach dem Anderen, das hinter solcher Wirklichkeit wäre, nach der Besseren Welt, die mit Gedanken zu erreichen, in der mit Gedanken frei zu schalten sei: – ich habe in meiner Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und in die Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt … Wann erstmals die Wachtraumbewegungen der jugendlichen Phantasie einsetzten (in dem mystisch verwischten Sinne, mit dem die Bildersequenzen namentlich der späten Fabeln sich auf sie berufen), ist nicht entscheidbar; sie mögen gleich aus der allerersten Kindheitsdämmerung herauf sich eingestellt haben, die Grenze überhaupt vertuschend (wie denn May die Grenze zeitlebens nicht präzise gekannt hat), – sie mögen gleichwohl später erst vom Einfluß der Märchengroßmutter geweckt und gelenkt worden sein, wenn auch wahrscheinlich weit allgemeiner, als May es dann aus der späten Rückbeschaulichkeit sah: im Bild der Großmutter Johanne Christiane Kretzschmar (1780–1865), dem lange mit Anstrengung sublimierten, sammelte er alle hellen Züge seiner Kindheit überhaupt – Züge, deren bloße Anzahl schon nicht überschätzt werden darf. Riesenhaft erdrückend bleibt die Misere gegenüber einer Handvoll tröstlicher Momente, die sichtbar, wohlig gefühlig empfindbar wohl überhaupt erst aus dem langen Abstand wurden. Ganz abgesehen davon, daß schon ein schieres Rindsgemüt dazu gehört, es mit Thomas Manns perfidem ›Glück im Ghetto‹ zu halten, das es da ›auch‹ gegeben habe, ist den in der Altersdistanz gebastelten Selbstbeschreibungen immer zu mißtrauen: ihren geschamig verschönenden Geständnissen einstiger Schicksalsgeschlagenheit wie ihren Erinnerungen allgemein, den stets manipulierten, ausgesiebten, rosa retuschierten: – falsch muß allein die Proportion schon werden. Was May, der von dem ihn dauernd hauteng umdrängenden Material her unschätzbare Dokumente hätte liefern können, bedeutend hätte geraten müssen, wäre sein Begriff vom Dokument nicht zeitlebens gering geblieben, wurde ihm vereitelt: den ›Verlornen Sohn‹, seinen sozialen Roman, verdarben ihm die albernen Klischees der Kolportage, und die Selbstbiographie, spätestes Niedergreifen auf den vergrabenen Hort frühester Erfahrung, wurde von ästhetischer Zensur verstellt (und von nur wieder viel zu vielen ego-bedingten und -gebundenen Zwecken): »In seinem Buche, da deutet er sehr viel vom Schmutz und Sumpfe seines Heimatortes Ernstthal an, und darüber hätte ich gern von ihm genaue Angaben gewünscht. Er versagte, weil ihm die Erinnerung daran wehe tat …«[9]

Das Geburtshaus in Ernstthal

Unter die Erinnerungen, vor denen May versagte (anders: unter die Fiktionen, die ihm beim zwischen Lücken gebückten Sortieren nur allzu behilflich waren), gehört zuletzt auch die Rolle der Märchengroßmutter, der Person, die in seelischer Beziehung den tiefsten und größten Einfluß auf meine Entwicklung ausgeübt hat; … ein ganz eigenartiges, tiefgründiges, edles und, fast möchte ich sagen, geheimnisvolles Wesen … ein herzliebes, beglückendes Rätsel, in dessen Tiefen ich schöpfen durfte, ohne es jemals ausschöpfen zu können … Wie in seinem späten Lebensbericht das Große Buch der Märchen selbst, Der Hakawati / d. i. / der Märchenerzähler in Asia, Africa, Turkia, Arabia, Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung, explanatio und interpretatio auch viele Vergleychung und Figürlich seyn / von / Christianus Kretzschmann / der aus Germania war. / Gedruckt von Wilhelmus Candidus / A.D. M.D.C.V.[10] durchaus nur ›figürlich‹ ist, so dürfte es auch die Erzählerin sein, der May erst ganz am Ende, als Krönung der sichtbar zwanghaft betriebenen Sublimation, auch die Autorität über sein Werk zuschrieb. Welchen Einfluß immer die sonderbare Frau auf ihn hatte, die Inspirationsquelle des Kindes war sie in dem Sinne wohl nicht, den die Selbstbiographie so unvergleichlich intensiv beschreibt. Die Suche nach den frühesten Anregungen hätte sich eher einem Mann zu widmen, den das späte ›Leben und Streben‹ gar nicht einmal mehr kennt; glaubwürdiger, echter erscheint, was May über ihn, den Schmiedemeister Christian Weisspflog, bereits 1899 in einer ersten, noch ganz spontanen biographischen Äußerung zu Protokoll gibt: Ich hatte einen Pathen, welcher als Wanderbursche weit in der Welt herumgekommen war. Der nahm mich in der Dämmerstunde und an Feiertagen, wenn er nicht arbeitete, gern zwischen seine Kniee, um mir und den rundum sitzenden Knaben von seinen Fahrten und Erlebnissen zu berichten. Er war ein kleines, schwächliches Männlein, mit weißen Locken, aber in unseren Augen ein gar gewaltiger Erzähler, voll übersprudelnder, mit in das Alter hinüber geretteter Jugendlust und Menschenliebe. Alles, was er berichtete, lebte und wirkte fort in uns, er besaß ein ganz eigenes Geschick, seine Gestalten gerade das sagen zu lassen, was uns gut und heilsam war, und in seine Erlebnisse Szenen zu verflechten, welche so unwiderstehlich belehrend, aneifernd oder warnend auf uns wirkten. Wir lauschten athemlos, und was kein strenger Lehrer, kein strafender Vater bei uns erreichte, das erreichte er so spielend leicht durch die Erzählungen von seiner Wanderschaft. Er hat seine letzte Wanderung schon längst vollendet; ich aber erzähle an seiner Stelle weiter …[11]

Vor das Bild der Mutter schiebt sich eine gewisse Sprachlosigkeit; Schuldgefühle, ihr gegenüber stärker als gegen andere, weil viel weniger greifbar, blieben noch im Alter Mays lebendig; darüber ist seine Erinnerung, die sonst durchaus mit vielem fertig wurde, auffällig formelhaft und schweigsam geworden: – sie war eine Märtyrerin, eine Heilige, immer still, unendlich fleißig, trotz unserer eigenen Armut stets opferbereit für andere, vielleicht noch ärmere Leute. Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus ihrem Mund gehört. Sie war ein Segen für jeden, mit dem sie verkehrte, vor allen Dingen ein Segen für uns, ihre Kinder. Sie konnte noch so schwer leiden, kein Mensch erfuhr davon. Doch des Abends, wenn sie, die Stricknadeln emsig rührend, beim kleinen, qualmenden Öllämpchen saß und sich unbeachtet wähnte, da kam es vor, daß ihr eine Träne in das Auge trat und, um schneller, als sie gekommen war, zu verschwinden, ihr über die Wange lief. Mit einer Bewegung der Fingerspitze wurde die Leidesspur sofort verwischt … Was sie, bei dauernd grober Arbeit zwischen den grob dauernden Schwangerschaften, zu leiden hat, weniger unter der bloßen Armut selbst als unter dem tyrannischen Mann, ihrer durchaus schlechteren Hälfte, scheint sich in wortlos wachsender Schwermut geduckt zu haben (die in der Familie lag: ihr Vater, Christian Friedrich Weise [1788–1832], kehrte dem Weberglück durch Selbstmord den Rücken – »Ursache: Trunkenheit und Verzweiflung« vermerkt das Kirchenbuch); eher passiv nur ist der Einfluß, den sie auf die Entwicklung des Jungen nimmt. Einmal rafft sie sich auf, dem Elend, das der Vater nicht zu lindern vermag, mit einem eigenen Beruf beizukommen: sie geht nach Dresden, um einen Hebammen-Kursus zu absolvieren, und da sie am 13.2.46 die Prüfung »vorzüglich gut« besteht, erhält sie 5 Wochen später die Bestallung als Hebamme in Ernstthal – ein Amt, in dem ihr dann die Tochter Caroline Wilhelmine verh. Selbmann (1849–1945) gefolgt ist.

Seit 1838 besaß die Mutter durch Erbschaft sogar einiges ›Vermögen‹ (das Geburtshaus Mays gehört dazu; und die Barschaft dürfte um einiges beträchtlicher gewesen sein, als die Groschenaufzählung der Selbstbiographie glauben läßt: 60 vor dem Ehemann verborgen gehaltene Taler werden allein für den Hebammenkurs verwendet). Aber dem Heinrich August rinnt nach und nach alles durch die zwar fleißigen, aber übel leichtsinnigen Hände: Wenn er auch nicht geradezu glaubte, plötzlich reich geworden zu sein, so nahm er doch an, jetzt zu einer andern Lebensführung übergehen zu dürfen. Er verzichtete darauf, sich sein ganzes Leben lang hinter dem Webstuhl abzurackern. Er hatte ja nun ein Haus, und er hatte Geld, viel Geld. Er konnte zu etwas anderem, Besserem greifen, was bequemer war und mehr lohnte als die Weberei … Das Bessere: sind täppische Versuche als Taubenhändler und ›Agent für alles mögliche‹; die Ersparnisse schmelzen dahin; am 15.4.45 muß das Haus in der Niedergasse verkauft werden (und der Erlös von 515 Talern scheint den gleichen Weg gegangen zu sein wie die raren ›Beutel‹; – fürs Wirtshaus hat es bei dem Patriarchen sonderbarerweise immer wieder gereicht, während die Familie sich mit dem Nähen von ›Leichenhandschuhen‹ plagt und die Kinder von den Schutthaufen Melde pflücken müssen, von den Rainen Otterzungen und von den Zäunen wilden Lattich, um das zu kochen und mit ihm den Magen zu füllen. Die Blätter der Melde fühlen sich fettig an. Das ergab beim Kochen zwei oder drei kleine Fettäuglein, die auf dem Wasser schwammen. Wie nahrhaft und wie delikat uns das erschien!): – man zieht zur Miete an den Markt, in das Haus des Webermeisters Selbmann.[12]

Der Vater ist die weitaus interessanteste Persönlichkeit im trüb verschwommenen Personale von Mays Kindheit und Jugend. Einige auffällige Eigenschaften, die sich dem Sohn vererbten und so sehr nicht mit dem erzgebirgischen Menschenschlag überein zu bringen sind, über weitere Voreltern hin zu verfolgen, wäre freilich müßig: mit Wahrscheinlichkeit ist er ein außereheliches Kind (»Der Schwängerer soll ein Unbekannter gewesen seyn«, vermerkt das Kirchenbuch – unentschieden, ob als bloßes Gerücht oder als Angabe des Mannes, der einen Fehltritt der Märchengroßmutter mit seinem Namen zudeckte; zwei weitere Geburten in der Umgebung des Datums tragen den gleichen Zusatz; eine vierte: »Der Schwängerer ist ein bayerischer Soldat«; 1810: Durchzug von Rheinbundtruppen[13]). Bei der Beschreibung des verworrenen Mannes hat May seiner Erinnerung besonders behutsame Sperren vorgeschaltet, doppelt erklärlich, weil er hier zugleich einer Selbstbeschreibung auswich; aber noch aus den humorig vermummten Episoden blickt das Gesicht zuweilen unangenehm genug hervor. Zwei Seelen müssen sich auch in dieser Brust die Wohnung teilen: die eine sei unendlich weich gewesen, unpräzise verträumt, in Gedanken verspielt; die andere (der gewöhnlich 10 Stunden des Tages gehören – gegenüber 4 unendlich weichen) bietet einen wahrlich fatalen Anblick. Da waren wir in steter Angst, ihn zu erzürnen … Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte ›birkene Hans‹, vor dem wir Kinder uns besonders scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Züchtigung im großen ›Ofentopfe‹ einzuweichen, um ihn elastischer und also eindringlicher zu machen. … Selbst in den heitersten und friedlichsten Augenblicken hatten wir das Gefühl, daß wir auf vulkanischem Boden standen und von Moment zu Moment einen Ausbruch erwarten konnten. Dann bekam man den Strick oder den ›Hans‹ so lange, bis Vater nicht mehr konnte … Daß der dauernde Konflikt zwischen seiner unleugbaren Intelligenz und der sie plump foppend umtölpelnden Unterumwelt sich hinter bleibend heiligmäßigem Wandel hätte verbergen lassen, wäre freilich nur utopisch anzunehmen; die lebenslänglich fruchtlosen Anstrengungen um ein besseres Tägliches Brot, das ausgesprochen böseste aller Spiele, waren kaum geeignet, dem Heinrich May eine stabile gute Miene einzubringen, und sein Charakterbild hatte allerlei Ursache, in der Lokalgeschichte zu schwanken. In der späteren Erinnerung der betreffenden Ernstthaler lebte er als liederlicher, streitsüchtiger Trunkenbold fort; doch hat er in der Gemeinde Ämter bekleidet, die nur an Bürger »von gutem, unbescholtenem Rufe«[14] verliehen wurden: als 24jähriger bereits gehörte er zum »Bürgergarden-Corps«, später war er Marktmeister und im Alter noch Armenpfleger. Aber das alles sind ›Ehrenämter‹, die nichts eintragen. Der Drang nach dem Fortkommen aus dem nicht mehr geliebten Beruf in, sei’s wie’s sei, ein Anderes, ›Höheres‹, nimmt bei ihm mit wachsender Erbitterung nur mehr die Formen einer immer trüberen Groteske an. Spielhafte, wenn auch gallig ernste Realträume werden exerziert: militärische Chargen erscheinen am Wunschhorizont als Formen ›höheren Rangs‹: Vater war Hauptmann der siebenten Kompanie (einer anläßlich des 49er Aufstands zur ›Rettung des Königs‹ in Marsch gesetzten Dorfarmee; die Schilderung scheint allerdings bei May besonders bunte Blüten zu treiben) – und das grobe Vaterverlangen nach dem Vorgesetzter-Sein mißbraucht den Jungen als willig gekrümmte Folie. Der Herr Hauptmann bekam einen Säbel und eine Signalpfeife. Aber er war mit dieser Charge nicht zufrieden; er trachtete nach Höherem. Darum beschloß er …, sich ganz heimlich … im ›höheren Kommando‹ einzuüben … So wurde ich einstweilen vom Handschuhenähen dispensiert und wanderte mit ihm täglich hinaus in den Wald, wo auf einer rings von Büschen und Bäumen umgebenen Wiese unsere heimlichen Evolutionen vorgenommen wurden. Vater war bald Leutnant, bald Hauptmann, bald Oberst, bald General; ich aber war die sächsische Armee. Ich wurde erst als ›Zug‹, dann als ganze Kompagnie einexerziert. Hierauf wurde ich Bataillon, Regiment, Brigade und Division … Aber ich war noch so jung und klein, und so kann man sich bei dem jähen Temperamente meines Generals wohl denken, daß es mir nicht möglich war, mich in so kurzer Zeit von der einfachen, kleinen Korporalschaft bis zur vollzähligen, gewaltigen Armee zu entwickeln, ohne die Strenge der militärischen Disziplin an mir erfahren zu haben … Obwohl May dann noch gutmütig bekennt, er habe durchaus Lust und Liebe zur Sache gehabt, scheint von jenen frühen, albern scheußlichen Erfahrungen seine Einstellung zum Militär zu datieren: später war er ebenso wehruntauglich wie -unwillig, und im Alter gab er schließlich in aller Ruhe zu Protokoll, daß zum Soldatenberuf eigentlich nur körperliche und geistige Krüppel geeignet wären[15] (ein Einfall, den bekanntzumachen freilich damals schon Perlen vor die Deutschen werfen hieß). Aber dann notiert er auch wieder, halb ergriffen sogar, den komischen Ausruf des Kantors Samuel Friedrich Strauch (1788–1860), der beim Vorbeimarsch der Königsretter dem Jungen die rechte Einstellung zur Obrigkeit wies – (und Kantors Wort ist ja fast schon Gottes Wort; wer wollte da nicht mitglauben –): »Es ist doch etwas Großes, etwas Edles um solche Begeisterung für Gott, für König und Vaterland! … Das Glück bringt sie ein, das wirkliche, das wahre Glück!« … Ich ging nach unserm Hof. Da stand ein Franzäpfelbaum. Unter den setzte ich mich nieder und dachte über das nach, was der Herr Kantor gesagt hatte. Also Gott, König und Vaterland, in diesen Worten liegt das wahre Glück; das wollte und mußte ich mir merken! Und das hat sich May dann zeitweilig auch nur zu gut gemerkt – und es seine Leser, die ebenso lieben wie deutschen, ebenfalls gehörig merken lassen.

Mit fünf Jahren ist seine Kindheit zu Ende. Aber keine Jugend hat danach mehr Raum; die mit dem Schulbesuch (1848–1856) sichtbar werdende Lernbegabung verleitet den Vater zu nebulosen Zukunftsplänen, hinter deren wütendem Betreiben das Bewußtsein des eigenen Versagens zum Schweigen kommen soll: zum unsinnigsten Vielwissen wird der Junge genötigt. Alles bei Pfarrer und Rektor nur Greifbare muß schwarz auf weiß besessen werden; der konfuse Bildungsbegriff des Vaters verlangt förmlich kulihafte Demonstrationen: ganze Kompanien von alten Gebetbüchern, Rechenfibeln, antiquierten Naturgeschichten muß der Junge wahllos abschreiben. Die Reaktion mag schon damals unter der Schwelle sich eingestellt haben: durchsichtiger zumindest wird, warum sein Umgang mit dem Wissen (zu schweigen von ›den Wissenschaften‹) zeitlebens dilettantisch blieb und nie die Heftigkeit des Kennverlangens erreichte, die den eigentlichen Autodidakten bezeichnet. Gefördert wird auch die musikalische Begabung: Orgel-, Geigen- und Klavierspiel bringt der Kantor bei, dazu das Handwerkliche des Tonsatzes. Die Texte der alten Kirchengesänge machen lateinischen Unterricht wünschenswert; und als wieder einmal ein Auswandererzug die Elendsgegend verlassen will, um ›drüben‹ die bessere Zukunft aufzusuchen, stellt sich die Gelegenheit fürs Englische ein (das May freilich, wie die sämtlichen vierzig Sprachen, deren er sich später rühmte, nur in den Anfangsgründen beherrschte); Französisch kommt gleichzeitig (nur wenig besser fundiert) hinzu. Und was sich bei diesem Wust noch an freien Viertelstunden und Sonntagspausen hatte erübrigen lassen, fällt schließlich dem letzten, verderblichen Unfug zum Opfer, den der Vater sich einfallen läßt oder zumindest duldet: als für die Hohensteiner Schankwirtschaft Engelhardt ein Kegelaufsetzer gesucht wird, gerät der Junge, eben 12 Jahre alt, für ganze Tageteile in den Dunstkreis der dörflichen Biertischbürger, und wie er, von abgestandenen Resten geistiger Getränke animiert, labil und ahnungslos den um so weniger geistigen Tagestratsch in sich aufnimmt, so ist er auch ahnungslos dem zweiten Gift ausgeliefert, das ihn durchsetzt: der Hintertreppenbücherei der Kneipe, deren Schund ihm Rechts- und Wirklichkeitsgefühl verzerrt: wo die Not am höchsten, ist Rinaldo Rinaldini am nächsten: und so macht sich der Junge eines Tages auf, um ›in Spanien‹ bei einem der Edlen Räuber Hilfe zu holen … Für lange Jahre hat ihn so der Kitsch infiziert.

Die Rectoratsschule verläßt Karl May mit dem Zeugnis »Wissenschaften II; Sittliches Verhalten I«; das Elternhaus, die Vater-Stadt verläßt er so gut wie ohne jede innere Festigung. Töricht bliebe der bisweilen unternommene Versuch, die 14 bizarre Jahre lang genossene Erziehung zu bagatellisieren: was aus ihr erwächst, aus einer Serie banaler Unfälle, wird zu einem Monstrum von Fall – und konsequent noch in jedem gedunsenen Detail. Zu suchen, wenn auch nicht gleich heimzusuchen: wären die Sünden des Kindes bei und an den Vätern, und nicht nur bis ins dritte und vierte Glied …

Kapitel II

Waldenburg und anderswo

Die ganzen zwanzig Jahre Folgezeit, der zeitlupig zäh dauernde Sturz in den Maelstrom ›des Lebens‹, das den allzu unzulänglich präparierten Armen weidlich schuldig werden läßt, warten noch immer auf eine Spezialarbeit[1], die sie – und mit ihnen ein Bündel bloßer bunter Gerüchte – zuvorderst einmal schlicht faktisch aufzuklären hätte. Und wenn sie auch so kompliziert nicht sind, daß man dafür, wie May es später wollte, nun gleich nur die Fach-Psychiatrie anrufen müßte, so bleiben doch die zu ihrer Erklärung nötigen Wege verwickelt und weitläufig genug; im enger beschränkenden Rahmen dieser Darstellung würden sie einfach zu weit führen. Zwischen der wechselseitig geübten Beschönigung und schäumender Aufbauschung irgendeine milde Mitte zu suchen, wie es diesen und jenen Lesern (besonders jenen) wohlgefällig wäre, ist bloßer Verlust, und nicht nur von Zeit; – ein Datenreferat statt dessen, kurz, und trocken vertrackt, wäre vorzuziehen: facts on file. So unbedingt dramatisch hat sich gar nicht aufzuführen, was Furcht und Mitleid reichlich genug erwecken kann …

Zu Ostern 1856 (23.3.) wird May konfirmiert: »Halte an dem Vorbilde der heilsamen Worte, die du von mir gehört hast …«[2] lautet der Spruch, den man ihm ›auf den Weg‹ gibt; in dieser Gemeinde hat er Heilsames vergleichsweise nicht eben viel gehört. Der Berufswahl setzen sich nach wie vor die Grenzen der materiellen Not; zum offenbar erwünschten Medizinstudium reicht es nicht; so soll er Lehrer werden. Der Pfarrer erwirkt beim Kirchenpatron, dem Grafen von Hinterglauchau, eine jährliche Unterstützung von 15 Talern[3]: ein winziger Zuschuß zu dem, was die Familie erhungern muß. Im Seminar Waldenburg besteht May die Aufnahmeprüfung; zu Michaelis (29.9.) 1856 wird er dort als Proseminarist offiziell aufgenommen; und zu Michaelis 57 dann beginnt die Zeit, in der unter den üblich anderen auch die ersten schlimmen Lehren auf ihn warten. Daß er die Entfernung vom häuslichen Herde und der daneben hängenden väterlichen Zuchtrute als Befreiung sieht, kann auch die steife Anstaltsdisziplin nicht dämpfen; so ist er wohl gleich zu Anfang ein bißchen mehr Mensch, als er’s nach Meinung der hohen Direktion hier sein sollte: etwas zu rasch vollzieht sich das Erwachen der lange geduckten, voller Mucken steckenden kleinen Person: kein atemlos lauschender Wissensdürster sitzt zu Füßen der Katheder links vorn über ihm (was sie zu bieten haben, weiß er rasch und leicht zu begreifen), sondern »ein guter Durchschnittsrüpel«, wie es ein Kenner der Seminarakten zusammenfaßt.[4] Besonders ›glücklich‹ hat sich May während der Waldenburger Jahre wohl jedenfalls kaum befunden; und die Ferien verbringt er durchaus gern wieder in der Heimatstadt, dort freilich weniger in der elterlichen Marktwohnung als in der Herrenstraße 53[5], wo das Schwesternpaar Anna und Laura Preßler ihn stark beschäftigt, vorab die ihm gleichaltrige Anna, Meine 1. Liebe[6] (die allerdings, trotz der ihr innig zugesungenen Liebeslieder, 1858 die Ehe mit einem Schnittwarenkrämer der Romantik vorzieht). Die Anstalt ist dagegen ein um so öderer Aufenthalt, ein trostlos trockenes Vertriebsbureau lexikalisch gestapelten Wissens; die Darstellung der Selbstbiographie wird von den Dokumenten ausgiebig bestätigt: Der Unterricht war kalt, streng, hart. Es fehlte ihm jede Spur von Poesie. Anstatt zu beglücken, zu begeistern, stieß er ab … Man lehrte nämlich weniger das, was zu lernen war, als vielmehr die Art und Weise, in der man zu lernen hatte … In meinem Wissen fehlte das feste Gerippe. Ich war in Beziehung auf das, was ich geistig besaß, eine Qualle, die weder innerlich noch äußerlich einen Halt besaß und darum auch keinen Ort, an dem sie sich daheim zu fühlen vermochte … Daß May dies damals bereits sicher erkannte und unausgesetzt an meiner seelischen Gestalt herumarbeitete, mich innerlich zu säubern, zu reinigen, zu ordnen und zu heben, ist zweifelhaft; bloßer Instinkt scheint sich gegen die von engen Disziplinen vergitterte Um- und Unwelt gekehrt zu haben, besonders deren dressierte Christlichkeit, die selbstgerechte, starre, salbungsvolle und muckerische Schulmeisterreligiosität[7] (eben jene, die er selber in seinen Erfolgsjahren dann recht virtuos praktizierte): Es gab täglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder Schüler unweigerlich teilnehmen mußte … Wir wurden sonn- und feiertäglich in corpore in die Kirche geführt … Es gab außerdem bestimmte Feierlichkeiten für Missions- und ähnliche Zwecke … Und es gab für sämtliche Seminarklassen einen wohldurchdachten, sehr reichlich ausfallenden Unterricht in Religions-; Bibel- und Gesangbuchlehre … Und so weiter. Als May im April 59 einmal dem Nachmittagsgottesdienst fernbleibt, setzt es denn auch sogleich eine Verwarnung; überhaupt sei er von »schwachem religiösen Gefühl«[8], findet hernach die Anstaltsleitung: ein Nächster, der nur mit Vorbehalten zu lieben wäre: »arge Lügenhaftigkeit und rüdes Wesen«[9] sind ihm eigen: es fehlt am rechten Geiste, dem wohldressierten, in spanische Stiefel eingeschnürten: mit diesem Schüler kann es kein gutes Ende nehmen …

Die offenbare Abneigung seiner Aufseher verschärft bis zur Bösartigkeit das Unglück, das May Mitte November 59 über sich bringt: da ist er »Lichtwochner«, hat die Beleuchtung der Klassenräume zu versorgen, verwaltet den Kerzenvorrat; – und in einem wirren Moment nimmt er »6 ganze Lichte«[10] an sich (an anderer Stelle: »1 Pfund Talglichter«[11]), verbirgt sie zwei Wochen lang in seinem Koffer, und da werden sie dann, auf Anzeige zweier Mitschüler, gefunden: – an der Eigenbeschreibung, die in ausführlicher Harmlosigkeit von Talgresten redet, höchstens für Schmiere zu gebrauchen … Schmutz … nicht drei Pfennig wert, scheint ›richtig‹ nur der dargestellte Zweck zu sein: das Wachs soll den Eltern und Geschwistern zum Christfest leuchten. Statt dessen entzündet der Seminardirektor Dr. Schütze die qualmende Fackel der Gerechtigkeit; eine Konferenz beschäftigt sich mit dem »infernalischen Charakter« (21./22.12. 1859); ein Bericht geht an das vorgesetzte Gesammt-Consistorium Glauchau, das wiederum, kerzengerade an Leib und Seele, dem Dresdener Cultusministerium Meldung macht; steif und gesetzlich reitet der Amtsschimmel retour; und am 28.1.60 sprechen die Gerechten zu Waldenburg die Höchststrafe aus, die ihnen die Seminarordnung an die Hand gibt: Verweisung von der Anstalt »wegen sittlicher Unwürdigkeit für seinen Beruf …«[12]

Den folgenden Monat über wird May alle Hände voll zu tun gehabt haben, sein (wohl auch vom Vater zusätzlich) schlimm gestoßenes Gleichgewicht wiederzugewinnen; am 6.3.60 dann rafft er sich auf, ein Gnadengesuch an das Cultusministerium zu richten[13], befürwortend unterstützt vom Ernstthaler Pfarrer Schmidt; und man ist einsichtig,man will die gewünschte Gnade vor Anstaltsrecht ergehen lassen: zwar verstreichen über dem langen Amtsweg noch bängliche sechs Wochen, doch dann, am 24.5., empfängt May vom Seminardirektor Wild, Plauen, den Endbescheid, daß er seine Studien dort fortsetzen darf. Am 2.6. besteht er die Aufnahmeprüfung; 2 Tage später tritt er ein.

In Plauen hat er dann – wenn auch nicht ganz reibungslos – die Ausbildung bis zum Ende absolviert. Am 17.8.61 erhält er von der Seminarkonferenz die eingeschränkte Sittenzensur »Zur Zufriedenheit«; am 23.8. meldet er sich zur Schulamtskandidatenprüfung; vom 9. bis 12.9. stellt er sich der Schätzung seines positiven Wissens; und am Tag darauf kann er die Gesamtzensur »Gut« denn endlich getrost nach Hause tragen: es ist gelungen.[14]

Für die Armenschule zu Glauchau wird ein Hilfslehrer gesucht. Am 5.10.61 spricht May auf der Superintendentur vor, quittiert mit Handschlag die ihm vorgelegten Bedingungen und erhält »gegen das hier übliche Vicariatsgehalt« (175 Taler jährlich plus Logisgeld) die 4. Klasse der Armenschule überantwortet.[15] Aber nur von kurzer 14tägiger Dauer ist der Dienst, den sich der Neunzehnjährige etwas zu versüßen trachtet. Am 17.10. »erscheint der hiesige Kaufmann Herr Ernst Theodor Meinhold in der großen Färbergasse 7, gibt an, daß der Hilfslehrer Carl Friedrich May bei ihm seit dem 5. Oct. sich in Wohnung und Kost gegeben, während dieser kurzen Zeit aber in der unwürdigsten Weise durch Lügen und Entstellungen aller Art sich bemüht habe, die Ehefrau von ihm abwendig und seinen schändlichen Absichten geneigt zu machen …«[16] Zwar ist der Untäter, vor dem die Gerechten ein weiteres Mal kunstvoll zurückbeben, durchaus »dieser Absicht nicht geständig«[17], muß aber einräumen, »daß er sich Annäherungen an die Ehefrau des p. Meinhold erlaubt habe …«: so wird ihm nahegelegt, die fristlose Kündigung zu akzeptieren, und wieder muß er sich nach einer neuen Bleibenden Statt umsehen.

Sie findet sich immerhin noch rasch: am 26.10. stellt sich May beim Superintendenten Kohl in Chemnitz vor; der holt sich von der Kgl. Kreisdirektion in Zwickau die (bedingte) Zustimmung zur Anstellung des Lehrers; am 6.11. tritt May sein Amt bei den Fabrikschulen der Firmen Solbrig und Claus in Altchemnitz an – (und »der noch sehr junge Lehrer hat kein übles Lehrgeschick«, wird dann von Kohl anläßlich einer Schulrevision am 10.12. beifällig vermerkt[18]: die Schwierigkeiten scheinen überwunden). Aber der fromme Wunsch, den der Glauchauer Amtsbruder des p. Kohl auf die Post gibt: Gott werde Mithilfe leisten, »daß die ernste Verwarnung, mit welcher der p. May von hier entlassen worden ist, Frucht tragen möge«[19]: erfüllt sich nicht. Als May auf Befragen nach den Ursachen seines so eiligen Scheidens aus jener ersten Stellung erzählt, wie er »dort das Unglück gehabt, bei einem dem Trunke ergebenen Wirthe zu wohnen« und »er unverhohlen demselben sein schändliches Treiben aufgedeckt« und »jener Mann … ihn nicht nur bei dem Herrn Consistorialrath und Superintendenten Dr. Otto verklagt, sondern auch anderen Leuten gegenüber verunglimpft« und »seinem Rufe in Glauchau geschadet habe«[20], erblickt der D. Otto »den Beweis, daß der Lügengeist, dem der junge Mensch … sich ergeben hat, von ihm noch nicht gewichen ist«, und empfiehlt, »den jungen Menschen zuvor einer sorgfältigen Überwachung und einer längeren scharfen Prüfung zu unterwerfen«[21]. Die ›Wahrheit‹ des so überflüssig gebauschten Falls mit gleicher Schärfe zu überprüfen scheint sich dagegen den beteiligten Sittenrichtern nicht empfohlen zu haben: nur »erforderlichen Falles« sollen der Kläger Meinhold und seine »in allen Stücken unschuldige Ehefrau«[22] ihre Angaben eidlich bestärken; und »überdies war der Ruf einer achtbaren Familie möglichst zu schonen«[23]. May zu schonen: war kein Anlaß; so wird (nur eine der Folgen jenes Abweichens vom schnurgerade sturen Pfad amtlicher Tugend) ihm eröffnet, »daß er nur provisorisch und unter speciellster Controlle sein Amt als Fabriklehrer zu Altchemnitz verwalten könne, und er bei der geringsten Veranlassung zu Unzufriedenheit mit ihm in Lehre, Leben und Wandel seiner Stellung wieder werde entlassen werden …«[24]: jeder Schritt geht jetzt über Glatteis.

Ein weiteres Mal verkehrt sich May solcherart eine verhältnismäßige Bagatelle in einen nicht geringen Schock; ein weiterer Nebel kommt dem blinden Gewölk hinzu, das sich in ihm zusammenbraut. Die erste Folge läßt nicht lange auf sich warten. Am 21.12.61 fährt er in die Weihnachtsferien nach Hause; – da wird er am 2. Feiertag ganz plötzlich im Hohensteiner Gasthof ›Drei Schwanen‹ verhaftet, wo er gerade Billard spielt. Die Anschuldigung: er habe seinem Stubengenossen in Altchemnitz eine Uhr gestohlen, eine »Anbeißpfeife« und eine »Cigarrenspitze« … Die Gegenstände werden bei ihm gefunden, doch leugnet er die Absicht des Diebstahls (und glaubwürdig ist die auf die Uhr, die angeblich mit Zustimmung des Eigners öfter schon entliehene, sich beschränkende Selbstdarstellung durchaus; gleichwohl bleibt auch diese »widerrechtliche Benutzung fremder Sachen« nach dem – später mit Grund aus dem RStGB 1871 fortgelassenen – § 330 des StGB f. d. Kgr. Sachsen (1855) auf Antrag eine strafbare Handlung, die mit »Gefängnis bis zu 6 Wochen« gerächt wird[25] –): man liefert May in Untersuchungshaft beim Gerichtsamt Chemnitz ein, das auch den Superintendenten Kohl in Kenntnis setzt. An Kohl auch schreibt am gleichen 26.12. noch Heinrich May einen Brief, aus dem hervorgeht, wie dunkel der Fall auch für die Familie war: »Wohl werden Sie von dem traurigen Vorfalle meines Sohnes … Kunde erlangt haben. Das Vorgekommene versetzt mich, sowie meine ganze Familie in den tiefsten Kummer, da wir durchaus gar nicht wißen, wie sich eigentlich die Sache verhält. Ich kann kaum glauben, daß mein Sohn die Uhr in der Absicht an sich genommen hat, einen Diebstahl begehen zu wollen. Ich glaube vielmehr, daß er es gethan hat, besagte Uhr während der Feiertags Ferien zu benutzen und sie dann stillschweigend wieder an den Ort ihrer Bestimmung hinzubringen. Sollte es sich so verhalten, wende ich mich im Vertrauen auf Ihre Güte mit der unterthänigsten Bitte an Sie, falls Sie etwas zum Schutze meines Sohnes beitragen könnten, dasselbe geneigt thun zu wollen, da ich nicht weiß, wohin, oder an wem ich mich wenden soll. Sollte die kaum begonnene Laufbahn meines Sohnes schon eine andere werden, und vielleicht eine solche, welche mit der größten Ungewißheit umgeben ist, welch ein Unüberwindlicher Schmerz würde das für uns alle werden …«[26] Denn die Folgen einer Verurteilung waren auch den Eltern aus den ›Verhaltensregeln für Schulamtscandidaten des Kgr. Sachsen‹[27] nur zu gut bekannt … Aber der Superintendent hegt keine der gewünschten Superintentionen; erst 16 Monate später erkundigt er sich einmal beim Chemnitzer Gerichtsamt nach dem Verbleib dieses Geringsten unter seinen Nächsten: »ob derselbe Strafe erhalten und seine Strafe verbüßt hat …«[28]; er liest die Antwort: »… daß der Fabriklehrer C. F. Mai zu Altchemnitz durch den in 2. Instanz bestätigten Bescheid des unterzeichneten Gerichtsamtes wegen Diebstahls zu 6 Wochen Gefängnis verurtheilt worden ist und nach Abschlagung der von ihm bzw. seinen Eltern angebrachten Gnadengesuche diese Strafe vom 8. Sept. bis 20. Oct. 1862 verbüßt hat …«[29] Der Dreivierteljahrszeitraum zwischen der Inhaftierung und der Verbüßung der Strafe scheint eigentliche Beweise nicht zutage gebracht zu haben; May wird »ungeachtet seines Läugnens für überführt erachtet«, wie es etwas später ein Zeitungs-Report weiß[30] (die Akten selber sind nicht mehr erhalten): eine Verurteilung auf Indizien hin also, – und wenn auch ein Leugnen Mays nun leider gar nichts besagen würde, so ist auf der anderen Seite die Strafbemessung, die auf den genannten Paragraphen 330 paßt, doch ein Hinweis, daß der Kgl. Sächsischen Gerechtigkeit bei ihrem Ratschluß gar so wohl nicht war: – der Fall wird immer unentschieden bleiben.

Weniger unentschieden ist die Wirkung, die er – jenseits aller Rechts- und Unrechtserwägungen – auf den Getroffenen hat: dem kommt er vor wie ein Schlag über den Kopf, unter dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht. Und ich brach zusammen! Ich stand zwar wieder auf, doch nur äußerlich; innerlich blieb ich in dumpfer Betäubung liegen; wochenlang, ja monatelang … Es herrschte jetzt in mir das strikte Gegenteil von Klarheit; es war Nacht; es gab nur wenige freie Augenblicke, in denen ich weitersah, als grad der heutige Tag mich sehen ließ. Diese Nacht war nicht ganz dunkel; sie hatte Dämmerlicht. Und sonderbar, sie erstreckte sich nur auf die Seele, nicht auf den Geist. Ich war seelenkrank, aber nicht geisteskrank … Und die lange Apologie, die May im Alter seinem damaligen Zustand widmete, mag immer mit gehört werden, so sehr sie sich dem gepeinigten alten Mann auch in die Theorie verschob; entschuldigen müssen ihn nicht die Zwangszustände einer gestört verwirrten Seele, sondern ganz platt und massiv die förmlich verschwörerisch um ihn zusammengerotteten Realitäten … denen freilich seine stets mehr von flackerndem Affetto als intellektuell gesteuerte Person nur allzu unglückselig Vorschub leistet.

Aus der Chemnitzer Haft entlassen, geht May zu den Eltern nach Ernstthal; die nächsten anderthalb Jahre verbringt er dort mit wechselnd kümmerlichem Fristen seines unübersichtlich gewordenen Lebens. Privatstunden geben die dünne Basis; als Rezitator tritt er gelegentlich auf, als Musikant; den Gesangverein ›Lyra‹ scheint er zeitweilig geleitet zu haben (dafür entstehen eine Reihe Kompositionen, Gebrauchsmusik, flott und flach gemachte, je nachdem Vater-unser-mäßig getragen oder Immer forsch resolut[31]). Ob freilich die ersten schriftstellerischen Versuche (von Gelegenheitsreimereien abgesehen) bereits in diese Zeit fallen, bleibt unbewiesen: Humoresken schrieb ich von 1860 an[32], heißt es in einer späten Notiz, und: Meine ersten Veröffentlichungen erschienen schon im Jahre 1863 …[33] Durchaus falsch jedenfalls sind die grandiosen Gesten der Selbstbiographie: Um meine Zukunft oder um eine Anstellung war es mir nicht; die hätte ich zu jeder Zeit erhalten können … Und ich begann zu schriftstellern. Ich schrieb erst Humoresken, dann ›Erzgebirgische Dorfgeschichten‹. Ich hatte nicht die geringste Not, Verleger zu finden. Gute, packende Humoresken sind äußerst selten und werden hoch bezahlt. Die meinigen gingen aus einer Zeitung in die andere … Weder noch und weder noch; wie später immer wieder, hat man auch hier May gegen seine eigenen, ungeschickt bezweckten Behauptungen in Schutz zu nehmen. Denn: am 20.6.63 verfügt das Kultusministerium auf Antrag der Kreisdirektion Zwickau, daß er aus der Kandidatenliste gestrichen wird[34]; seine Zeugnisse werden kassiert; und wenn er gar, ganz heimlich, und wider schlimmeres Wissen, vielleicht doch noch gehofft hat, aus der müßigen, wenig süßen Ernstthaler Stagnation eines Tages wieder in den alten Beruf fortzukommen, so ist es damit jetzt gründlich aus: er steht wieder am Anfang, steht – nach sechs Jahren nun vergeblicher Quälerei – vor dem Nichts.

Ein Jahr eben dauert es, bis sich die Konsequenzen einstellen.

Am 9.7.64 erscheint in Penig ein »Dr. med. Heilig, Augenarzt und früher Militair aus Rochlitz«: »Alter: 21–23 Jahre; Größe 68–69 Zoll; Statur: mittel und schwach; Gesicht: länglich, blaß; Haare: dunkelbraun; Nase und Mund: proportioniert; Stirn: hoch und frei … Brille mit Argentangestell … von freundlichem, gewandtem und einschmeichelndem Benehmen …«[35]: Portrait of the Artist as a Young Man. Derselbe läßt sich in einem Kleidermagazin ausstaffieren (nicht ohne den Doktor-med zuvor durch ein »zwar eine gute Schulbildung aber keine eigentliche medicinische Ausbildung verrathendes Augenheilrezept«[36] unter Beweis zu stellen) und verschwindet sodann, ohne zu bezahlen … Am 16.12.64 taucht er als »Seminarlehrer Lohse« in Chemnitz wieder auf, läßt sich (mittlerweile mit kurzem dünnen Backenbart versehen und in den Augen der Gendarmerie auf 26 Jahre und 72 Zoll Größe avanciert) in den Gasthof ›Zum Anker‹ diverses Pelzwerk kommen (»Wert über 100 Thlr.«), begibt sich damit ins Nebenzimmer, um es dort seinem »kranken Herrn Direktor« zu zeigen, kehrt aber nicht zurück, sondern entfernt sich vielmehr alsbald »mit dem um 3 Uhr nach Leipzig gehenden Eisenbahnzuge …«[37] In Leipzig aber spürt das Völkchen dann doch, wer sie da laufend am Pelzkragen hat: als sich am 20.3.65 der Notenstecher Hermin (gelegentlich auch »Hermes«: nach so brillanten Erfolgen nicht mehr nur einfacher Dieb, sondern gleich Gott der Diebe) am Thomaskirchhof 12 einmietet und sogleich das alte Manöver wiederholt, geht der Hauswirt zur Polizei; die Pfandleihen werden benachrichtigt; man kommt dem Fremden auf die Spur, die ins Rosental führt; – und dort wird er nach einem Handgemenge »ergriffen und nachher mittels eines Fiakers hierher transportiert«: aufs Polizeiamt Leipzig. Dort ist der Arretierte »anfänglich ganz regungslos und anscheinend leblos gewesen und hat auch, nachdem der Polizeiarzt herzugerufen wurde, nicht gesprochen und erst später angegeben, daß er Karl Friedrich May heiße, in Ernstthal heimatberechtigt und dort Lehrer gewesen sei …«[38]

Schloß Osterstein, 1865.

Ob May in den offenen Zwischenzeiten ähnlich tätig gewesen ist[39], wie es später in so rüdem Ausmaß behauptet wurde, läßt sich mit Sicherheit nicht entscheiden, ist aber unwahrscheinlich: verurteilt wird er ausschließlich aufgrund der 3 hier skizzierten Delikte. Am 8.6.65 ist die Verhandlung vor dem Bezirksgericht Leipzig; »allenthalben des ihm Beigemessenen geständig«[40], wird er »wegen unter erschwerenden Umständen verübten gemeinen Betrugs«[41] (an anderer Stelle: »wegen mehrfachen Betrugs«[42]) zu der Strafe verurteilt, die heute gelegentlich für Beihilfe zum Massenmord verhängt wird: 4 Jahre 1 Monat Arbeitshaus …

Eine Woche später ist das »unwürdige Glied des Lehrerstandes«[43] nur noch die »Nummer 171« unter den rund 1000 Gefangenen der Strafanstalt Schloß Osterstein in Zwickau.

Kapitel III

Acta in Sachen des Rechtes ./. C.F.M.

Es ist weit über ein Menschenalter her, daß ich an einer schweren seelischen Depression erkrankte, deren Äußerungen man vor den Strafrichter brachte, anstatt vor den Arzt und Psychologen. Ich habe es schwer zu büßen gehabt, daß der Stand der gerichtlichen Psychologie damals noch nicht derselbe war, wie er es heutigen Tags ist. Heut würde man mich freisprechen …[1] Heute: zwei weitere Menschenalter nach der Niederschrift dieser Sätze: würde man May gewiß ebensowenig ›frei-sprechen‹ wie damals; und ob der ›Stand der gerichtlichen Psychologie‹ in den vergangenen 100 Jahren eine heilsame Änderung erfahren habe, ist eine Frage, auf die das Strafgesetzbuch auch nach Revision nur eigentlich trübe Antworten austeilt. ›Vor Gericht‹, vor welchem immer, wäre Mays Fall nur wenig aussichtsreich, heute wie immer[2]