Abenteuer in Sibirien - John Retcliffe - ebook

Abenteuer in Sibirien ebook

John Retcliffe

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Opis

Sir John Retcliffe, der eigentlich Herrmann Ottomar Friedrich Goedsche heißt, war ein deutscher Schriftsteller, aber er war auch bei der Preußischen Geheimpolizeit tätig, arbeitete für Redaktionen, war Herausgeber und Kriegsberichterstatter. Sir John Retcliffes historisch-politische Romane sind im ureigensten Sinn mit Abenteuern angereicherte Tendenzromane, die das gesamte politische Geschehen seiner Zeit zum Inhalt haben. „Abenteuer in Sibirien” ist eine autonome Episode aus dem 13-bändigen Riesenroman „Biarritz”. Hier präsentiert der Autor einen historischen Abenteuerroman aus den Weiten der sibirischen Tundra.

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John Retcliffe

Abenteuer in Sibirien

Warschau 2018

Inhalt

1. In Sibirien

2. Die Russen am Amur

1. In Sibirien

Die kurze Zeit, die unterm 64. Grad nördlicher Breite, also fast in der Zone des Polarkreises, als Sommer gilt – das heißt, in welcher der Schnee an den westlichen Abhängen des Stanoway-Gebirges schmilzt, für wenige Wochen dürftige Halmen aus dem Boden und Zweige aus dem niedern Koniferenwerk oder den Birkenbüschen sprießen und die Sonne nur kurze Stunden unter den Horizont tritt, also der Juli und August – war längst vorüber; schon seit vier Wochen war der Winter wieder eingetreten und der Schneesturm fegte mit seiner gewaltigen Macht über die Tundra und durch die öden Täler.

Es war noch früh am Morgen, als sämtliche Bewohner der kleinen, aus wenigen elenden Blockhäusern und Jurten bestehenden Kolonie Katemskoi, eine der alten Zawods oder Tributstationen für die Stämme der Jakuten und Tungusen zwischen dem oberen Lena-Gebiet und Ochotzk vor dem Blockhaus des Holowa oder Gemeindevorstehers versammelt waren. Ein Narty mit dem aus Weiden geflochtenen Korb auf den vorn schmalen und hohen, hinten breiter werdenden leichten Kufen stand an dem Vorbau, und neben dem Gespann in seinen Sanejach, den Pelz von doppelten Renntierhäuten, gehüllt, die Beine mit den langen Torbassy, den Winterstiefeln, bedeckt, und Pfeife, Kneipzange, Wermutbeutel und Messer am Gürtel, Bogen und Köcher über der Schulter und einem langen Stock zum Lenken seines Postzugs in der Hand, harrte ein alter Jakute; diesen Postzug selbst aber bildeten paarweise langgespannt zwölf Hunde, von der Größe etwa unserer Schäferhunde, mit schmutzig gelbgrauem Fell und starkem Knochenbau, die sich jetzt gemütlich in dem Schnee gelagert hatten. Zwei der jenisseischen Kosaken in spitzen kirgisischen Pelzmützen mit breiten Ohren- und Wangenklappen, in warme Armiaks von Schafwolle gekleidet, darüber Pelze von Wolfsfell, saßen bereits auf den hohen Sätteln, welche mit den dicken Filzdecken, Potniki genannt, auf kleine, wild und unbedeutend aussehende, aber ungemein ausdauernde Steppenpferde geschnallt waren, und schienen ungeduldig die Insassen des Schlittens zu erwarten, den sie zu begleiten hatten.

Wenn wir eben von der ganzen Bevölkerung der Kolonie gesprochen haben, so müssen wir sogleich bemerken, daß diese aus höchstens zwanzig Personen bestand, von denen etwa ein Drittel Weiber und Kinder waren. Not und Leiden oder stumpfe Gleichgültigkeit lag auf den meisten Gesichtern, von denen einige die tartarische oder mongolische Abkunft verrieten. Einige Physiognomien zeigten die breite russische Gesichtsbildung mit gemeinen, vom Branntwein oder den narkotischen Wirkungen der Surrogate des Tabaks, hauptsächlich des giftigen Lerchenschwamms zerstörten Zügen, einigen aber war auch der Stempel höherer Abkunft und früherer glücklicher Lebensverhältnisse noch unverkennbar eigen.

»No«, sagte einer der Kosaken, »wenn unser Väterchen sich nicht eilt, werden wir heute nicht mehr das Stationshaus an der Maja erreichen und können die Nacht im Schnee zubringen. Wo zum Teufel steckt denn der Pfaff?«

»Er spricht mit dem Schweigenden«, sagte einer der Kolonisten. »Was spricht der Warnak für Unsinn? Weißt du nicht, Kerl, daß ein Kosak das Recht hat, dir den Bart zu zausen und dir das Gesicht zu verarbeiten? Wie kannst du dich unterstehen zu sagen, daß man mit einem Stummen sprechen kann, du Hundesohn?«

Der Sträfling warf bei dem Schimpfwort, obgleich er in der Tat zur Katorga, das heißt zur schweren Arbeit verurteilt war, einen giftigen Blick auf den Kosaken, entgegnete aber mit Rücksicht auf die gewaltige Nahaska, den kirgisischen Kantschu, den jener in der Hand trug, sehr devot: »Womit habe ich dich beleidigt, Batiuszki? Ich rede nicht von einem Stummen, sondern von einem, der nicht mit uns reden will, obschon er nichts Besseres ist als wir. Gott und der Zar wissen allein, warum er hier ist! Aber schau, da kommen beide!«

Aus einer der dürftigen, von Stangen, Birkenrinde und Renntierfellen gebildeten, mit Erde beworfenen Jurken traten eben zwei Männer ins Freie und schritten auf das Blockhaus des Holowa zu. Es waren beide ältere Männer, der eine freilich zehn oder fünfzehn Jahre älter als der andere. Aber selbst die Last der sechzig Jahre und der furchtbaren Leiden, die er erduldet haben mußte, hatten nicht vermocht, seine hohe edle Gestalt zu beugen oder den Glanz seines Auges zu trüben, das finster und streng vor sich niedersah. Er war in einen weiten, einem Schlafrock ähnlichen Armiak von brauner Farbe gekleidet, der bis zu den Füßen niederhing, und trug auf dem kahlen Kopf eine Pelzmütze, nach Art der Jakuten das Fell nach innen gekehrt. Trotz des unbehilflichen Schnitts seiner Tracht, die durch ein Paar hohe Stiefel von Pferdehaut, Sary genannt, vervollständigt wurde, hatte dieselbe etwas Geordnetes, Militärisches.

Er ging mit gesenktem Haupt neben seinem Begleiter und schien empfindungslos und gleichgültig gegen dessen Worte. Dieser war ein ernst aussehender Geistlicher vom Orden der Basilianer, der in Irkutzk ein Kloster besitzt, trug aber nicht das weiße Ordensgewand, sondern die dunkle Kleidung der katholischen Weltgeistlichen, über welche ein Pelz von dem Fell der schwarzen sibirischen Bären geworfen war, während seine Beine in weiten Filzstiefeln steckten. Wenn je die heilige Mission der Tröstung Opfer und Anstrengungen gefordert hat, so ist es jene, welche eine kleine Anzahl von Geistlichen der katholischen Kirche in den Einöden Sibiriens vollzieht. Von Tobolsk und Irkutzk aus, wo die Station dieser frommen und ehrwürdigen Männer für die beiden General-Gouvernements von West- und Ostsibirien ist, durchziehen sie unter tausend Leiden und Entbehrungen die ungeheuren Landstrecken vom Baikal bis zum Eismeer, vom Ural bis Kamtschatka und besuchen jedes Jahr alle Stationen der Verbannten, um den Nieszczastnyi, den Unglücklichen, wie der Volksbrauch sie mitleidig heißt, die ewigen Tröstungen der Religion zu bringen! Die russische Regierung, die bei so vieler tyrannischer Härte in manchen Dingen so eigentümlich liberal in anderen handelt, hat dieser Seelsorge der katholischen Kirche bis jetzt noch kein Hindernis in den Weg gelegt. Freilich verpflichtet ein strenger Eid diese Geistlichen, sich jedes politischen Verkehrs mit den Verbannten zu enthalten.

Der Begleiter des Priesters blieb, ehe sie die Gruppe um den Schlitten erreichten, stehen und reichte jenem die Hand.

»Lassen Sie uns scheiden, Pater, und mögen Ihnen Gott noch ein langes und segensreiches Wirken hienieden verleihen. Dort oben hoffe ich Sie nach diesem wiederzusehen!«

»Ich hoffe es noch in dieser Welt. Ich hoffe zu dem Erlöser, noch aus Ihrem Munde zu hören, daß Sie wie dieser Ihren Feinden vergeben und denen, die Ihnen Leiden verursacht haben, nicht mehr fluchen.«

Der gebeugte Mann richtete sich kräftig empor, sein Auge flammte im finstern Blick auf das milde Gesicht des Geistlichen. »Vergeben? Wissen Sie, wer ich bin? Haben Sie die Flammen von Praga leuchten, die Kinder polnischer Mütter auf die Bajonette der russischen Schergen spießen sehen? Haben Sie je in den Kerkern unter dem Palast dieses Zaren geschmachtet, in einem Kerker, gegen den die Marterkammern Venedigs ein glücklicher Aufenthalt? Haben Sie die Tiefen der Bleigruben von Nertschinsk ermessen und unter den Stockschlägen dieser Henker ihre beste Lebenskraft gelassen? Vergeben? Vergeben das geknechtete, gemordete Vaterland, diese verstümmelten Glieder? Verlangen Sie die Vergebung von einem Gott – bei einem Menschen, der gelitten wie ich, finden Sie nur den Fluch!«

Der Pater wandte sich erschüttert ab. »Unglücklicher Mann«, sagte er, »dessen Namen ich nicht einmal weiß, da Sie ihn selbst in der heiligen Beichte verschwiegen, der aber sicher einst unter den Edelsten und Besten Ihres unglücklichen Vaterlandes geglänzt hat – kann ich denn nichts tun zur Erleichterung des Restes Ihres Lebens? Ich will mit dem Horodiczny dieser Station sprechen und ihm jede Milde empfehlen – das gestattet unsere Lizenz der Regierung.«

»Der Holowa der Station«, sagte der Verbannte, »ist, wie Sie wissen, ein alter Franzose, ein Ehrenmann, der mir jede Gunst, die er gewähren kann, ohnehin zuwendet. Was Sie mir Gutes erweisen können, haben Sie getan, das heilige Sakrament hat mich zum letzten Kampf des Lebens gestärkt. Was ich allein noch von Ihnen erbat, die Annahme und Beförderung meines Testamentes, haben Sie mir abgeschlagen...«

»Ich habe einen Eid geleistet!« unterbrach ihn der Priester.

»Ich weiß es und ergebe mich darein, obgleich es mich nötigen wird, mein letztes, ein heiliges Wort an das Vaterland und meine Brüder einem Manne anzuvertrauen, den mein besseres Selbst mich verachten läßt, obschon er unter der gleichen Tyrannei leidet wie ich. Wenn Sie etwas dazu tun können, retten Sie jenes Mädchen, die Enkelin des Holowa, vor dem entsetzlichen Einfluß des Russen!«

Der Priester sah fragend empor, aber in diesem Augenblick traten mehrere Personen aus der Vorhalle des Blockhauses, und der Verurteilte wandte sich rasch um, als wolle er nicht mit ihnen zusammentreffen.

»Ihre Zeit ist um«, sagte er, »und auch die meine! Die heilige Jungfrau segne Ihren Weg!«

Er ging eilig davon, seiner einsamen Jurte zu.

Es waren drei Personen, die aus dem von Fichtenstämmen errichteten, in den Spalten mit Lehm und Moos ausgedichteten und durch Erdanwurf gegen die Winterkälte möglichst geschützten Blockhaus getreten waren, zwei Männer und ein Mädchen. Der eine war ein Greis nahe den Siebzig. Gleich dem Polen hatte er in seiner Haltung etwas Adrettes, Militärisches, was ihn vorteilhaft von den Eingeborenen und den Verurteilten unterschied. Obschon er die Landestracht trug, zeigten der scharfe Schnitt seines faltenreichen Gesichts, die Adlernase und das große dunkle Auge doch den Südländer.

Der zweite war ein Mann von etwa vier- bis fünfundvierzig Jahren, eine Löwengestalt, dem die langen Haare wüst um den Kopf flogen, eine echt russische Physiognomie mit trotzigem, energischen Ausdruck. Es lag etwas Vornehmes, Gewaltiges in der ganzen Erscheinung des Mannes, dessen Wesen und Gebärden im Gegensatz zu der traurigen Lage eines Sträflings jenes eigentümliche Air der vornehmen russischen Gesellschaft zeigten. Selbst in der Art, wie er seine unvorteilhafte Kleidung trug, und in der Wahl derselben prägte sich dies aus; denn obschon sie an Unordnung und Schmutz der der andern Verbannten und Eingeborenen wenig nachgab, war sie doch von den besten Stoffen. Er trug über einem dunkelgrünen Tuchrock einen Pelz von jenem Sämisch-Leder, dessen treffliche Fabrikation die Haupt- oder fast die einzige Industrie der Bewohner von Irkutzk ist, gefüttert mit sibirischem Fuchs, und eine gleiche über die Wangen reichende Kappe. Ein chinesischer Schal von roter Seide schloß den Pelz um seine Hüften, und auf dem Rücken trug er eine Janczarki, die lange tartarische Flinte, neben Pfeil und Bogen.

Zwischen diesen beiden Männern erblickte man eine Erscheinung, wie man sie schwerlich in diesen Einöden, unter diesem traurigen Himmel und so fern den Grenzen europäischer Kultur gesucht hätte.

Es war ein junges Mädchen von etwa neunzehn Jahren, die Enkelin des Holowa oder Gemeindevorstehers, des alten Franzosen, wie ihn vorhin der Verbannte in dem kurzen Gespräch mit dem Geistlichen bezeichnet hatte.

In der Tat war der zivile Vorsteher der Kolonie – die Kolonisten haben in Sibirien das Recht, diesen aus dem Kreise der sogenannten Kronbauern zu erwählen – von Geburt ein Sohn des schönen und fernen Frankreichs. Auf dem unglücksvollen Rückzug der einst so übermütigen napoleonischen Armee von dem brennenden Moskau durch die Winterschrecken von 1812 war er, damals ein junger Krieger von kaum 20 Jahren, in die Hände der Kosaken gefallen und als Kriegsgefangener nach dem fernsten Osten des gewaltigen Reiches geschleppt worden. Wie so viele derselben war er bei der nach dem Pariser Frieden erfolgten Auslieferung der Gefangenen in dem fernen Sibirien vergessen, hatte seinen Angehörigen in der Heimat längst für tot gegolten und war später durch verschiedene Lebensschicksale, die wir vielleicht noch Gelegenheit haben werden, näher zu erwähnen, veranlaßt worden, alle weiteren Schritte zur Erlangung seiner Freiheit zu unterlassen, um so mehr, als er hier die Tochter eines Eingeborenen, eines der angesehensten Tungusenhäuptlinge, zur Frau genommen.

Nur einige Jahre hatte jedoch diese Verbindung gewährt. Von den Kindern, die seine Frau ihm hinterlassen, war eine einzige Tochter am Leben geblieben, die Mutter des Mädchens, das jetzt neben ihm stand und dem seine ganze Liebe und Sorgfalt gehörte. Denn seine Tochter, welche einen vornehmen verbannten Russen geheiratet, der mit dem unglücklichen Dichter Bestuschew in der Pestel'schen Verschwörung von 1825, welche den Thron des Zaren Nikolaus so blutig befestigte, eine hervorragende Rolle gespielt hatte und nach der Hinrichtung der Hauptleiter mit 83 Verschworenen nach Sibirien begnadigt und nach Verlauf der Katorga in die Posielenie nach den Wildnissen zwischen der Lena und Ochotzk gesandt worden, war schon vor zehn Jahren mit ihrem Gatten an einem der bösartigen sibirischen Fieber gestorben. Jeanrenaud, wie der alte Franzose sich nannte, war mit seinen Kindern in die Kolonie gezogen, und da er sich von dem Grabe seiner Tochter nicht trennen wollte, hier geblieben. Sein ruhiges gediegenes Wesen und der Einfluß, den er durch seine frühere Heirat auf die Nomadenstämme übte, hatten ihm das Vertrauen nicht allein der Ansiedler, sondern selbst der russischen Beamten erworben, und so war er auf Grund seiner Stellung als Kronbauer oder freier Besitzer zum Vorsteher der einsamen Station gemacht worden.

So sehr er auch wünschte, die geliebte Enkeltochter, das einzige Band, was ihn noch ans Leben fesselte, in glücklichere und für ihre Zukunft geeignetere Verhältnisse zu bringen, hatten doch seine Zärtlichkeit für sie und andere Umstände ihn bisher gehindert, sich von ihr zu trennen und sie zur Erziehung nach St. Petersburg oder einem andern geeigneten Ort zu senden. So war Jahr auf Jahr vergangen, aus dem Kinde war eine Jungfrau geworden, die in dieser wilden und schmutzigen Atmosphäre zu einer seltsamen Blume emporgeblüht war.

Der Holowa, der in seiner Jugend eine gute und vornehme Bildung genossen, hatte sich bemüht, diese bei der Erziehung seiner Enkelin zu verwerten, in deren Adern sich das französische mit dem tartarischen Blut so seltsam kreuzte; aber die Zärtlichkeit für dieselbe hatte ihn leider auch verhindert, die Prinzipien einer Erziehung mit Strenge durchzuführen und sie vor den wilden Einflüssen zu bewahren, die sie rings umgaben und denen er ja selbst unterlegen war.

So war denn ihr Charakter bei großen natürlichen Anlagen und einem ursprünglich warmen Herzen und richtigem Gefühl bald zu einem beklagenswerten Gemisch von wildem, kühnem Trotz, Aberglauben, Hochmut und Laune geworden. Dennoch zeigten sich häufig auch unter diesen schlimmen Eigenschaften und in einer noch schrecklicheren, für ein so junges Herz und so ungeordnetes Denkvermögen wahrhaft teuflischen Versuchung, wie die letzten zwei Jahre sie ihr gebracht, Züge hohen und edlen Sinnes und wahrer Weiblichkeit.

Dieses seltsame Wesen war ebenso eigentümlich in ihrer äußeren Erscheinung.

Wéra Tungilbi – wie sie mit ihrem russischen und tungusischen Namen genannt wurde – war von mittlerer Größe, schlank, aber kräftig gebaut, mit abgehärtetem Körper gegen alle Strapazen und die Wirkungen des Klimas. Unter einem reichen, in Zöpfe geflochtenen blonden Haar und der niederen Stirn wölbte sich schön und kühn eine kurze Adlernase über einem etwas breiten, aber edel und voll geschnittenen Mund. Das Kinn war schmal und ging in eine schön gebogene Kehle über, die mit dem Hals dem kräftigen Nacken eines Hirsches glich. Der Bau des Gesichts neigte sich allerdings zu der bekannten tartarischen Form der Backenknochen, ohne aber einen unangenehmen Eindruck zu machen, harmonierte vielmehr vollkommen mit dem Ganzen und der eigentümlichen Bildung der Augen, die diesem Gesicht erst seinen merkwürdigen Ausdruck gab. Diese Augen waren in Folge ihrer Abstammung klein und in leichtem Winkel sich zur Nasenwurzel neigend, aber von einem solchen Feuer, daß sie förmlich zu funkeln schienen und nur wenige ihren Blick ertragen konnten, ohne den ihren zu senken. Dies Feuer wurde noch erhöht durch die seltsame Anomalie, daß trotz der blonden Farbe ihres Haares tiefschwarze buschige Brauen in hoher Wölbung sie beschatteten. Füße und Hände waren überaus klein und von aristokratischer Form.

Die junge Sibirianka trug einen reichen phantastischen Anzug, wie die Frauen des Volkes, dem ihre Großmutter entsprossen, ihn lieben. Er war wie der der Männer, zwar aus Häuten und Pelzwerk, aber dies von kostbarster Art, und bestand aus einem kurzen, bis über die Knie reichenden Frauenrock von dem weißen Fell des Hermelins, Strumpfstiefeln von Renntierfell und einem anschließenden, mit bunten Glasperlen, Seide, Pferde- und Ziegenhaaren phantastisch geschmückten jakutischen Obergewand von kostbaren Zobelfellen, das Rauhe nach außen gekehrt. Obschon dieser Rock oder Pelz gegen die jakutische Sitte den Körper vollständig hätte einschließen können, trug die schöne Halbwilde doch den Handi, die eigentümliche bis auf die halben Lenden reichende und unten ausgefranste Schürze von gelbgegerbten Leder, welche Männer und Frauen an einer Schnur um den Hals hängen haben und die den Spalt des engen Obergewandes ausfüllt. Dicke Pelzhandschuhe und ein pelzgefütterter Baschlik von rotem Tuch um Kopf und Hals geschlungen vollendete diese wilde, aber keineswegs unschöne Tracht. In der Hand trug die Schöne eine kleine, roh geschnitzte, aber mit scharfem Stahlreifen versehene Armbrust, und an dem Gürtel des Rocks einen Köcher mit stumpfen Bolzen, ein Messer in einer Scheide von Fischhaut und einen kleinen handlangen amerikanischen Revolver. An einem leichten Riemen hingen über ihrer Schulter zierliche lange Schneeschuhe, mit dem Fell eines Renntierkalbes bespannt.

Wéra Tungilbi trat alsbald auf den Geistlichen zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Siehst du, Väterchen«, sagte sie französisch, »daß ich recht hatte, als ich sagte, wir könnten zusammen aufbrechen. Nummer Neunhundertachtzig muß dir sehr interessante Dinge zu sagen gehabt haben, daß seine Beichte so lange gewährt hat!«

»Spotte nicht eines Unglücklichen, Tochter«, sagte ernst der Priester, indem er sich zu seinem Schlitten wandte, gleich als wünschte er weiterem Verkehr zu entgehen. »Welchen besseren Trost konnte er für die schweren langen Monde, die ihm und allen Bewohnern dieser traurigen Öde wieder bevorstehen, gewinnen, als daß Gott der Herr seine Sünden verziehen hat und die Heiligen ihn stärken werden, seine Leiden zu tragen!«

»Ein warmer Bärenpelz«, meinte höhnisch der Begleiter des Mädchens, »würde das mehr tun als alle Heiligen des Kalenders! Ein tüchtiger Schluck Branntwein ist ein besseres Heilmittel bei 40 Grad Réaumur als alle Absolution!«

»Schweig, Unseliger!« sprach zürnend der Priester. »Du frevelst an Gott, der dich wie ihn zur Strafe eurer Sünden in diese Einöde geführt hat!«

»Unsinn!« lachte höhnisch der Verbannte. »Der Zar in Petersburg oder der Generalgouverneur von Irkutzk ist dein Herrgott gewesen, der uns zur Strafe für unsere Dummheit hierher geschickt! Ich dachte nicht, daß ein Mann wie Neunhundertachtzig nach seinen Erfahrungen noch an dem Ammenmärchen von Gott und Religion hängt!«

Das Mädchen lachte hell auf, als sie das entsetzte Gesicht des Priesters bei dieser Blasphemie sah, welcher der greise Holowa mit finsterer, unwilliger Miene zuhörte, ohne indes zu wagen, seinen Hausgenossen darüber zu tadeln, vor dem er eine gewisse Furcht zu empfinden schien.

»Heilige Jungfrau!« rief der Priester mit Entsetzen, die Hände erhebend, »das also ist der Grund, unglückliches Kind, weshalb du gestern zögertest, die Segnungen unserer heiligen Religion zu genießen?! Welcher schlimme Same ist in dein Ohr gefallen, seit ich das letzte Mal diesen Ort besuchte! Und Ihr, Jeanrenaud, wie konntet Ihr es dulden, daß dieser Frevler an Gott und Menschen ein junges Gemüt vergiftet, das die Segnung der christlichen Taufe empfangen und für das Ihr den Heiligen verantwortlich seid?«

Der Greis wandte sich finster ab, ohne eine Antwort zu geben. Das Mädchen selbst aber übernahm dieselbe.

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