Devil - Julia Brylewska - ebook

Devil ebook

Brylewska Julia

5,0

Opis

Alles hat seinen Preis – doch was, wenn dieser Preis du bist?

Fesselnde Handlung, dunkle Geheimnisse und sinnliche Leidenschaft – eine Liebesgeschichte, der man sich nur schwer entziehen kann

Zurück in ihrer Heimatstadt Philadelphia, hat Hailey Warren einen einfachen Plan: Sie will Zeit mit ihrer Familie verbringen, einen Job finden und ein ruhiges Leben führen. Schnell wird jedoch klar, dass sie das nicht haben wird. Es stellt sich heraus, dass das Familienunternehmen der Warrens hoch verschuldet ist. In seiner Verzweiflung wendet sich Haileys Bruder hilfesuchend an den reichen Geschäftsmann Victor Sharman, doch dieser knüpft seine Hilfe an eine Bedingung. Er wird das Unternehmen retten, wenn er dafür etwas ganz Besonderes bekommt – Hailey.

Um die Firma vor dem Ruin zu bewahren, ist das Mädchen gezwungen, sich auf dieses Spiel einzulassen. Sie muss sich einem Mann stellen, der in Philadelphia nur als der »Teufel« bekannt ist. Doch warum hat Victor Sharman ausgerechnet sie ausgewählt?

Lass dich vom ersten Teil der »Inferno«-Trilogie verführen. Kannst du dem »Teufel« widerstehen?

Die Bestseller-Trilogie aus Polen – jetzt auf Deutsch!

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Popularność




Inhaltsverzeichnis
Buchinfo
Zitat
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Epilog
Leseprobe: Angel, Band 2
Danksagung
Hinweis des Verlags
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Devil. Inferno 1« im Verlag Wydawnictwo Niezwykłe, Oświęcim
© 2021 by Julia Brylewska Für die deutsche Erstausgabe © 2024 by Rubino Books, Imprint von Legimi [email protected] Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Magdalena Chrobok
Redaktion und Korrektorat: Ineke Reichel, Magdalena Chrobok, Karin Lipski
Umschlaggestaltung: Marcin Skrzypczak, www.grafiduo.pl
ISBN 978-83-67280-69-3
E-Book erstellt von eLitera s.c.

Es gibt eine Trauer, die man nicht beweinen kann. Eine Trauer, die man niemandem erklären kann und die niemand, selbst wenn man sie erklären könnte, begreifen kann. Diese Trauer lässt sich in nichts transformieren, sie legt sich leise auf die Seele, wie Schnee in einer windstillen Nacht.

Haruki Murakami,Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt 

PROLOG

Er nannte sie Dämonen, obwohl sie nichts weiter als Ängste, Erinnerungen und Überbleibsel einer verdrängten Vergangenheit waren.

Tagsüber begleiteten sie ihn auf Schritt und Tritt. Sie machten sich schmerzlich bemerkbar, wenn er in den Spiegel sah und sein eigenes Antlitz erblickte. Und nachts. Die Nächte waren am schlimmsten. Alles, was er tagsüber so sehr in Schach zu halten versuchte, stürzte sich nachts auf ihn wie ein hungriges Tier, und er hatte keine Kraft dagegen anzukämpfen.

Der Albtraum sah immer gleich aus: Er begann in einem kleinen, sanft schaukelnden Boot, das irgendwo in der Mitte des schwarzen Wassers eines bewachsenen, längst vergessenen Sees trieb. Schon in diesem Moment wusste er, was als nächstes kommen würde. Unwillkürlich richtete er seinen Blick auf die unbewegliche dunkle Wasseroberfläche. Eine leichte Brise wehte durch sein schwarzes Haar. Sein Atem wurde schwerer und sein Herz schien in seinem rasenden Lauf fast stehen zu bleiben.

Der zarte Nebel, der ihn umgab, sah aus wie Wolken, die vom Himmel heruntergestoßen aufs Wasser gefallen waren.

Seine Hände waren schweißnass, seine Kehle schmerzhaft trocken und seine Lippen rissig. Als er die Lippen vorsichtig öffnete, spürte er, wie seine Haut aufplatzte. Der metallische Geschmack von Blut schien bitter und süß zugleich zu sein. Er schluckte mühsam den Speichel herunter und richtete seinen Blick auf das schwarze Wasser. In der Tiefe sah er einen weißen Umriss, der mit jeder Sekunde mehr und mehr wie eine Hand aussah, die sich ihm entgegenstreckte.

Er fiel auf die Knie. Das Boot schaukelte durch die plötzliche Bewegung, aber das war ihm egal. Er tauchte seine Hände in das kalte, fast eisige Wasser, das die Ärmel seines weißen Hemdes benetzte. Er verzog verzweifelt sein Gesicht, als er versuchte, die ihm entgegengestreckte Hand zu ergreifen. Sie war so blass, dass sie fast unmenschlich wirkte.

Die Gestalt, die ihn leise um Hilfe anflehte, war jedoch zu weit entfernt.

Er stützte sich mit der rechten Hand auf die hölzerne Seite des Bootes und lehnte sich noch weiter vor. Seine Lippen berührten die Oberfläche des Wassers. In diesem Moment begegnete ihm inmitten der Schwärze und Dunkelheit ein Blick: ein Augenpaar, das ihm schmerzlich vertraut war.

Eine blasse Hand umklammerte sein Handgelenk, dünne Finger gruben sich in seine Haut, sodass er nicht mehr zurückkonnte. Plötzlich spürte er einen starken Ruck und wurde in die Tiefe des Wassers hinuntergezogen. Im letzten Moment holte er Luft.

Er war nicht auf die Kälte vorbereitet, die seinen Körper erfasste, als er vollständig in den See eintauchte. Seine Muskeln spannten sich schmerzhaft an, sodass er zunächst nicht in der Lage war, eine Bewegung zu machen, um einen verzweifelten Rettungsversuch zu unternehmen.

Er war am Ertrinken. Er war zu müde, um es zu verhindern.

Die Hand, die sein Handgelenk umfasst hatte, war verschwunden. Er war allein mit der Schwärze um ihn herum. Mit der ohrenbetäubenden Stille. Mit seinem langsam schlagenden Herzen. Er schloss die Augen und ließ seinen Körper in die Tiefe sinken, hinunter in die auf ihn wartende Dunkelheit.

Er bedauerte nicht allzu viele Dinge in seinem Leben. In diesem Moment konnte er sich auf nichts anderes konzentrieren als auf die Stille um ihn herum. Sie war eine Art Trost. Die Welt schien stillzustehen, oder war er vielleicht kein Teil mehr von ihr? Vielleicht war hier, unter Wasser und in der Stille der Dunkelheit, nichts mehr wirklich von Bedeutung?

Er hob seine schweren Augenlider. Ein schwaches Leuchten durchbrach die kalte Wasseroberfläche. Ein kaum wahrnehmbarer, aber sichtbarer Umriss zeichnete sich im grellen Licht ab. Es war eine schlanke Hand mit gespreizten, dünnen Fingern. Sie kam auf ihn zu, zerschnitt die Dunkelheit und zerriss die Stille.

Er war sich nicht sicher, ob er Erleichterung oder Angst empfand, als er die Hand sah. Er spürte jedoch einen Hauch von Wärme, als sie sein Handgelenk ergriff und ihn ins Licht zog. Die Helligkeit zwang ihn dazu, die Augen zusammenzukneifen. Als er einen Moment später seine Augen öffnete, war er weder ertrunken, noch stand er in einem Boot, sondern mitten auf einem hellen Schulflur.

Wasser tropfte von seinen durchnässten Kleidern und fiel auf den Fußboden. Er ließ seinen Blick über die Reihen der orangefarbenen, hohen Spinde gleiten, die sich an den Wänden entlang bis zu den geschlossenen Doppeltüren am Ende des Ganges erstreckten.

Sein Atem wurde ruhiger und sein Herz schlug in einem gleichmäßigen Rhythmus. Er ließ seine Schultern erleichtert nach unten fallen, als er tief seufzte. Erst dann bemerkte er, dass noch immer etwas Warmes sein Handgelenk umfasste.

Er drehte langsam seinen Kopf. Er betrachtete die Gestalt, die neben ihm stand: eine Frau, oder eher ein Mädchen, einen Kopf kleiner als er, zierlich, in ein weißes, bodenlanges Kleid gehüllt. Ihr Gesicht wurde von einer Kaskade langer, schwarzer Haare verdeckt. Ihr Blick war irgendwo in die Ferne gerichtet, vielleicht auf die Tür oder auf das, was sich dahinter befand.

Er öffnete vorsichtig seine Lippen. Er wollte sie fragen, wer sie war, aber bevor er das tun konnte, drehte sie ihren Kopf zu ihm.

Er erschauderte vor Überraschung und Entsetzen. Die Gestalt hatte kein Gesicht: weder Augen noch Mund. Es war nur eine blasse, leere Masse.

Er machte einen ruckartigen Schritt zurück, aber nur einen, denn die schlanke, zierliche Hand umklammerte sein Handgelenk fester und ließ ihn nicht entkommen.

Victor schreckte auf und schnappte nach Luft. Die Luft, die den Raum erfüllte, war angenehm frisch. Der Schlaf war so abrupt beendet worden, dass er es nicht einmal mehr schaffte, seine Müdigkeit hinter sich zulassen.

Er öffnete seine Augen und sein Blick fiel auf die dunkle Decke. Es war noch Nacht, denn durch die halb zugezogenen Jalousien kroch nur die Dunkelheit ins Schlafzimmer. Er drehte seinen Kopf zur Seite. Seine Wange schmiegte sich an das kühle Kissen. Dann sah er auf die digitale Uhr, die auf dem Nachttisch stand. Sie zeigte 4:36 Uhr an. Er hatte drei Stunden und zweiundzwanzig Minuten geschlafen. Weniger als in der letzten Nacht und wahrscheinlich mehr als in der nächsten.

Als er die Augen wieder schloss und sich danach sehnte, in den Schulflur zurückzukehren, um das Gesicht des Mädchens erneut zu sehen, war alles, was er sah, Dunkelheit.

KAPITEL 1

Die Frauen lächelten ihn immer auf dieselbe Art und Weise an: ein wenig schüchtern und mit einem Funkeln in den Augen. Es war, als ob sie sich für die Gedanken schämten, die ihnen plötzlich in den Sinn kamen, wenn sie jemandem wie Victor Sharman gegenüberstanden.

Das war das Lächeln, das Nina ihm zuwarf, als er kurz vor sieben Uhr morgens in der Zentrale von Sharman Enterprises eintraf.

Mit einer schüchternen Handbewegung strich sie ihr langes, blondes Haar zurück, das ihr über die Schulter fiel, als sie sich aufrichtete. Dann legte sie beide Hände auf die helle Schreibtischplatte und beugte sich leicht vor. Sie war gekleidet wie die meisten Sekretärinnen in der Firma: enger schwarzer Rock und makellose weiße Bluse.

»Guten Morgen, Mr Sharman«, flötete sie, und ihre vollen, roten Lippen lächelten ihn freundlich an. »Es wurden vor dem Lunch keine Meetings angesetzt, aber am frühen Morgen ist hier ein junger Mann vorbeigekommen«, informierte sie ihn und deutete mit einer Handbewegung auf die weißen Ledersofas, die an der Wand standen.

Victor Sharman betrachtete den schlanken, dunkelhaarigen Mann. Er war vielleicht zwei oder drei Jahre jünger als er selbst, aber sein blasses, ergrautes Gesicht trug zu seiner Ernsthaftigkeit bei.

»Ich habe ihm gesagt, dass es unwahrscheinlich sei, dass Sie für jemanden wie ihn, der unangemeldet vorbeikommt, Zeit haben werden, aber ...«

»Schon okay, Nina«, warf er ein.

Er steckte die Hände in die Taschen seiner schwarzen Anzughose und ging erhobenen Hauptes voran. Nina hatte recht: Um ihn persönlich zu treffen, reichte es nicht aus, einfach die Schwelle des Unternehmens zu überschreiten. Victor Sharman hasste es, seine Zeit mit Leuten zu verschwenden, die ihm nicht das bieten konnten, was er haben wollte.

Als er etwa zwei Meter vor der weißen Couch stehen blieb, hob der dunkelhaarige Mann den Kopf und sprang, als er ihn sah, eilig auf.

Victor erkannte ihn sofort, obwohl sich der Schatten der Niederlage auf dem Gesicht des Neuankömmlings abzeichnete und seine gesamte Gestalt seltsam gebückt erscheinen ließ.

»Wir werden uns in meinem Büro unterhalten«, verkündete er knapp.

***

Das Büro befand sich in der obersten Etage des Wolkenkratzers von Sharman Enterprises. Durch die großen Fenster konnte man hinunter auf die belebten Straßen von Philadelphia sehen, die von leichtem Regen und morgendlichem Nebel durchzogen waren.

Victor wandte sich dem breiten, dunklen Schreibtisch zu. Direkt hinter ihm, auf einem der beiden mit schwarzem Leder bezogenen Sessel, saß ein leicht gebeugter Thomas Warren – ein Narr, der alles haben könnte, wenn er es denn nur wollte.

Als Victor vor fünf Jahren Sharman Enterprises gründete, war die Warren Company seine größte Konkurrenz gewesen. Edward Warren, der Gründer des Unternehmens, machte jedoch einen großen Fehler: Er überschrieb den Großteil der Aktien auf seinen Sohn, der das Familienerbe daraufhin mit sich in den Abgrund gerissen hatte.

Von dem Moment an, als die Probleme der Warren Company zum ersten Mal ans Licht kamen, wusste Victor, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Er wartete nur darauf, dass Thomas wie ein geprügelter Hund vor ihm stehen würde und bereit wäre, eine Menge zu opfern, um das zu retten, was er durch seine eigene Dummheit kaputt gemacht hatte.

»Ich verschwende wirklich nicht gerne Zeit mit unnötigen Formalitäten«, sagte er kurz und korrigierte die Manschettenknöpfe, die unter den Ärmeln seines schwarzen Jacketts hervorschauten. »Lass uns also zur Sache kommen. Wie ich vermute, wissen wir beide, was Sinn und Zweck deines Besuchs ist.«

Thomas Warren senkte den Blick und krümmte sich noch mehr zusammen.

Victor schob seinen Stuhl zurück, setzte sich darauf und stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte. Dann ließ er seinen Blick durch das Büro schweifen: dunkelgraue Wände und eine schwere Holztür. 

»Du bist hier aufgetaucht und willst mich bitten, die Schulden deines Unternehmens aufzukaufen, bevor du gezwungen bist, Konkurs anzumelden – was natürlich sowohl dir als auch deinen Eltern die Existenzgrundlage entziehen würde.«

Sein Gesprächspartner nickte und verzog dabei das Gesicht. Thomas richtete seinen Blick auf seine Hände, die er zusammenpresste, um ihr Zittern zu verbergen.

»Ich kann nicht zulassen, dass meine Familie das Unternehmen verliert«, antwortete er.

Victor verfolgte seine Bewegungen: jedes Zucken, jede nervöse Geste.

»Meine Hilfe hat ihren Preis.«

»Ich werde alles tun«, versicherte Thomas hastig und hob den Kopf.

Victors Mundwinkel zuckten und formten ein freudloses Lächeln.

»Wirklich, Thomas?« Er hob eine dunkle Augenbraue. »Alles?«

Der Mann nickte unsicher und fragte dann:

»Was ist der Preis?«

Victor trat zurück und neigte den Kopf zur Seite, um das Gesicht von Thomas Warren genauer zu betrachten. Dann lächelte er mit einer seltsamen, unpassenden Zufriedenheit. Wie der Teufel, der gerade eine weitere verirrte Seele gefunden hatte ...

***

Hailey hatte immer Pech gehabt.

Als sie zwölf Jahre alt wurde, stellte sich heraus, dass sie aufgrund einer Handgelenksverletzung ihr geliebtes Volleyballspiel aufgeben musste. An ihrem sechzehnten Geburtstag verstauchte sie sich den Knöchel und musste ihren Traum von einer Skireise begraben, für die sie monatelang in einem Getränkemarkt gearbeitet und Geld gespart hatte.

Und jetzt, obwohl sie vor wenigen Wochen vierundzwanzig Jahre alt geworden war, hatte sie sich auf dem Flughafen verirrt wie ein kleines Kind, das in einem unachtsamen Moment die Hand seiner Mutter losgelassen hatte.

Sie umklammerte den Griff ihres kleinen Koffers und drehte sich um die eigene Achse. Das letzte Mal stand sie an dieser Stelle vor fast fünf Jahren, als sie sich schluchzend von ihren Eltern verabschiedet hatte, um an ihrer Traumuniversität zu studieren. Der Philadephia International Airport hatte sich seitdem beträchtlich vergrößert, sodass sie beim Aussteigen mit den anderen Passagieren nicht das fühlte, was sie hätte fühlen sollen – die grenzenlose Freude, nach Hause zurückzukehren. Sie fühlte sich an diesem Ort seltsam fremd.

Sie war natürlich glücklich, weil sie ihre Liebsten wirklich vermisst hatte. Allerdings wurde sie auch von einer Angst begleitet, deren Ursache sie nicht genau benennen konnte. Vielleicht ahnte sie irgendwo in ihrem Herzen, dass sie sich in den fünf Jahren ihrer Abwesenheit so sehr verändert hatte, dass sie möglicherweise nicht mehr in diese einst vertraute Welt passte.

»Hailey!«

Sie schaute sich um, suchte nach einem bekannten Gesicht unter den Leuten, die eilig an ihr vorbeigingen, aber bevor sie es finden konnte, fiel ihr schon jemand um den Hals. Unerwartet tauchte ein heller Lockenkopf vor ihr auf.

Meggie umarmte sie mit aller Kraft, als wolle sie damit all die verpassten gemeinsamen Momente aufholen. Hailey erwiderte die Umarmung mit einem Lachen. Sie hatte sie wirklich vermisst.

»Oh, wow.« Die Blondine entließ sie aus ihrer Umarmung und trat einen Schritt zurück. Sie hatte immer noch ihre schlanken Hände auf Haileys Armen liegen und fixierte sie mit ihren braunen Augen. »Du siehst auf jeden Fall besser aus als ich, und ich glaube nicht, dass mir das besonders gut gefällt«, murmelte sie gespielt empört.

An diesem Tag hatte Hailey auf Jogginghose oder Jeans verzichtet und sich für ein lockeres grünes Kleid, weiße Turnschuhe und Socken in zwei verschiedenen Farben entschieden. Gerade als sie darauf hinweisen wollte, dass Meggie in dem enganliegenden schwarzen Rock und einem leichten Pullover ebenfalls hinreißend aussah, verlor ihre Freundin den Kampf und flüsterte mit Tränen in den Augen:

»Du weißt gar nicht, wie sehr ich mich freue, dass du wieder da bist. Ich habe dich so sehr vermisst.« Sie zog Hailey wieder an sich und umarmte sie fest.

Hailey lachte leise, dann löste sie sich sanft von ihr und sah Meggie an.

»Ich habe dich auch vermisst, Meg«, gestand sie.

»Okay, lass uns von hier verschwinden, bevor ich völlig durchdrehe«, lachte Meggie und beugte sich vor, um nach Haileys Koffer zu greifen. Dann packte sie die Brünette am Arm und zog sie zum Ausgang. »Deine Eltern können es kaum erwarten, dich zu sehen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, bestätigte Hailey lachend. Sie hatte ihre Eltern seit über fünf Monaten nicht mehr gesehen, seitdem sie sie das letzte Mal in New York besucht hatten. »Ich habe mit Thomas gesprochen, bevor ich losgeflogen bin. Er meinte, dass Mum alle meine Lieblingsgerichte kochen würde.« Sie zögerte, als sie eine leichte Grimasse auf dem Gesicht ihrer Freundin bemerkte. »Entschuldige.«

Sie verließen das Flughafengebäude, nachdem sie durch die Schiebetüren gegangen waren, und Meggie blieb stehen. Ein kühler Wind zerzauste ihre hellen Locken und zauberte eine gewisse Zufriedenheit auf ihr Gesicht. Doch hinter ihren braunen Augen verbarg sich auch Traurigkeit.

»Es ist in Ordnung«, versicherte sie. »Nur weil ich mich von deinem Bruder getrennt habe, heißt das noch lange nicht, dass sein Name verboten ist, oder?«

Hailey warf einen Blick auf das Profil ihrer Freundin, als diese den Kopf drehte, wahrscheinlich auf der Suche nach ihrem geliebten weißen Fiat 500. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie wütend sie gewesen war, als sie Meggie und Thomas beim Knutschen auf dem Rücksitz seines Autos erwischt hatte. Ihre zehn Jahre währende Freundschaft wurde damals auf eine harte Probe gestellt. Hailey hatte sich von den beiden Menschen, die ihr am nächsten standen, verraten gefühlt. Meggie hingegen liebte sowohl Thomas als auch ihre beste Freundin zu sehr, um sich für einen der beiden entscheiden zu können.

Die Zeit heilte alle Wunden. Die Mädchen konnten nicht lange so tun, als ob es ihnen getrennt voneinander besser ginge als zusammen. Obwohl es anfangs sehr schwierig war, akzeptierte Hailey schließlich, dass ihre beste Freundin und ihr älterer Bruder mehr verband als nur eine dumme Teenagerschwärmerei. Als sie vor ein paar Jahren ihre Heimatstadt verließ, war sie beruhigt, dass Thomas, der nur allzu gern in Schwierigkeiten geriet, in Meggies Obhut sein würde.

»Alles in Ordnung, Meg?«, fragte sie, was die Blondine dazu veranlasste, ihr einen fragenden Blick zuzuwerfen. Seit ihrer Trennung hatten sie keinen Moment Zeit für ein ehrliches Gespräch gehabt. »Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum ...«

»So ist das Leben manchmal«, antwortete Meggie schnell, ging auf die Autoreihen zu und zog Haileys Koffer hinter sich her. »Menschen streiten und versöhnen sich, lieben sich und hören auf, sich zu lieben.« Sie hielt inne und drehte sich zu ihrer Freundin um. »Es tut mir leid, Sonnenschein, aber ich bin nicht so eine hoffnungslose Romantikerin wie du.« Sie zog die Augenbrauen zusammen, während sie sich auf ihr Auto zubewegte, das sie irgendwo in der Ferne entdeckt hatte.

»Ich bin überhaupt keine hoffnungslose Ro...«

»Oh, Halt!«, rief sie, während Hailey ihr folgte und sich vorsichtig zwischen zwei zu dicht stehenden Autos hindurchzwängte. »Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie du Romanzen über One Direction geschrieben hast?«

»Damals war ich vierzehn«, murmelte Hailey, die schließlich auch Meggies weißen Fiat entdeckte. »Und ich wusste nicht, dass es bei einer Beziehung nicht nur darum geht, dass ein Junge dir Blumen schenkt und du ihm das Trikot seiner Lieblingsfußballmannschaft kaufst.«

Sie blieb in der Mitte des Parkplatzes stehen und wandte ihr Gesicht den Strahlen der Sonne zu. Sie holte tief Luft und sah sich langsam um. In der Ferne konnte sie die Umrisse von Wolkenkratzern erkennen.

Meggie legte den Koffer in den kleinen Kofferraum hinein und sah ihre Freundin an.

»Können wir losfahren oder brauchst du noch fünf Minuten?« Sie lachte und schüttelte den Kopf.

Hailey schenkte ihr ein warmes, aufrichtiges Lächeln. Plötzlich fühlte sie sich so, wie sie sich fühlen sollte: als wäre sie nach einer sehr langen und anstrengenden Reise nach Hause gekommen.

Als der weiße Fiat auf eine der Hauptstraßen von Philadelphia einbog und sich in den morgendlichen Verkehr einreihte, schaute Hailey aus dem Fenster. Sie entdeckte einige Orte wieder, die sie noch aus ihrer Schulzeit kannte: einen alten Buchladen, ein Antiquitätengeschäft und ein Mehrfamilienhaus, auf dessen Balkonen immer bunte Blumentöpfe standen.

Sie bedauerte sehr, dass sie ihre Heimatstadt während ihrer fünfjährigen Studienzeit nur dreimal besuchen konnte. Studium und Arbeit hatten jedoch den größten Teil ihrer Zeit in Anspruch genommen, und das Leben in New York hatte sie ein Vermögen gekostet. Da sie unabhängig sein wollte und die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern nicht akzeptierte, war sie gezwungen, doppelt so viel zu arbeiten.

Ihre Gedanken schweiften an New York ab, als der Fiat an einer Kreuzung hielt. Zwischen den in den Himmel ragenden Gebäuden entdeckte sie etwas, das ihre Aufmerksamkeit erregte: ein hoher Wolkenkratzer aus schwarzem Glas mit einem einfachen weißen Schild an der Spitze. Aufgrund der Entfernung konnte sie nicht erkennen, was auf dem Schild stand.

Meggie hupte das Auto vor ihnen an, stieß einen leisen Fluch aus und schüttelte dann missbilligend den Kopf. Sie warf einen flüchtigen Blick auf Hailey.

»Was siehst du dir an?« Sie beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. »Ah, das ist Sharman Enterprises. Du kennst bestimmt Victor Sharman, oder? Er ist mit uns zur Schule gegangen. Ich glaube, er war in seinem letzten Schuljahr, als wir in die Highschool kamen.« Sie legte ihre Stirn in Falten. »Oder hat er damals seinen Abschluss gemacht?« Sie schaltete in den ersten Gang und fuhr hinter den langsam fahrenden Autos her.

»Nein«, gab Hailey zu. »Ich kann mich nicht daran erinnern, diesen Namen schon einmal gehört zu haben.«

»Du wirst ihn oft hören, jetzt wo du wieder in Philadelphia bist, Sonnenschein.«

»Warum?«, sie drehte ihren Kopf und sah Meggie an. »Dieser Sharman, ist er eine Art Berühmtheit hier?«

Die Freundin lachte leise und schüttelte erneut den Kopf. Sie schaltete in einen höheren Gang. Der Verkehr begann sich langsam zu lichten, als sie auf eine der weniger befahrenen Straßen abbogen.

»Ja und nein«, antwortete sie. »Jeder weiß, wer er ist, aber nur wenige wissen wirklich etwas Genaueres über ihn.« Sie zuckte mit den Schultern. »Er ist stinkreich, sein Unternehmen ist auf dem Weg nach oben. Es ist, als ob er eine Art Firmengott wäre oder zumindest einen sechsten Sinn hätte.«

»Vielleicht hat er einfach nur Glück?« Hailey schaute wieder aus dem Fenster. Das hohe schwarze Gebäude wurde nun jedoch von anderen Wolkenkratzern verdeckt, als Meggie in den Vorort fuhr.

»Gewiss. Jemand, der Geld hat, reich ist und in so kurzer Zeit so erfolgreich ist, muss verdammt viel Glück haben.« Sie seufzte nachdenklich. »Ich könnte auch ein bisschen davon gebrauchen.«

»Hey, ich glaube, es läuft gar nicht so schlecht bei dir, oder?« Hailey schaute sie aufmunternd an. »Ich habe die Bewertungen im Internet gelesen. Dein Café hat einen guten Ruf, Meg.«

»Ja, ich denke schon.« antwortete sie und sah sich um.

Das Haus von Haileys Familie lag ungefähr in der Mitte der Straße, die sie entlangfuhren, und sah genauso aus wie die anderen Häuser in der Gegend. Meggie konnte es nicht von den anderen weißen Gebäuden mit schwarzen Schrägdächern unterscheiden.

»Ich werde morgen im Café vorbeischauen und deinen berühmten Erdnussbutter-Latte probieren.«

»Unbedingt!« Meggie lächelte, als sie schließlich einen großen bunten Topf mit Sonnenblumen, den Lieblingsblumen von Haileys Mutter, auf einer der Veranden entdeckte. Sie hielt den Wagen direkt am Bürgersteig an und stellte den Motor ab.

»Danke, Meg.« Hailey öffnete die Beifahrertür. 

»Kein Problem. Du schuldest mir zehn Dollar«, verkündete diese. »War ein Scherz.«

Die Brünette schüttelte den Kopf und stieg aus dem Auto aus. Sie nahm ihr Gepäck aus dem Kofferraum, stellte ihn auf den Bürgersteig und ging zur Fahrertür, als Meggie die Fensterscheibe herunterließ.

»Wir müssen wirklich eine Menge nachholen.«

»Wir werden feiern, wenn ich einen Job gefunden habe, okay?« antwortete Hailey.

»Oh nein, Sonnenschein, ich werde erst einmal mit dir deinen Geburtstag nachfeiern. Ich weiß, dass es ein bisschen zu spät dafür ist, da du ihn schon vor drei Wochen gefeiert hast, aber es ist nicht meine Schuld, dass du dich entschieden hast, am anderen Ende der USA zu studieren.«

Hailey lachte leise.

»Bist du sicher, dass du nicht mit reinkommen möchtest?«, fragte sie. »Meine Eltern würden sich bestimmt freuen, dich zu sehen, Meg.«

»Ein anderes Mal«, versicherte sie. »Grüß sie von mir, okay?«

»Ja, sicher.« Hailey trat einen Schritt zurück und packte den Griff des Koffers. »Nochmals vielen Dank. Wir sehen uns morgen.« Sie wandte sich um und ging den gepflasterten Weg entlang, der auf beiden Seiten von einem grünen, perfekt getrimmten Rasen begrenzt wurde.

»Hailey!« Meggie steckte ihren Kopf aus dem Auto und das Mädchen schaute zu ihrer Freundin. »Willkommen zu Hause!«

Kurz darauf war der Wagen zwischen den identisch aussehenden weißen Einfamilienhäusern verschwunden. Hailey holte tief Luft und ging auf die Holzveranda zu. Bevor sie jedoch auch nur die Hälfte der Strecke geschafft hatte, schwang schon die Haustür auf und ihre Mutter trat heraus.

Sie sah genauso aus wie an dem Tag, als Hailey ihre Heimatstadt verlassen hatte. Obwohl mehr als fünf Jahre vergangen waren und Kris Warren bald ihren einundfünfzigsten Geburtstag feiern würde, wirkte sie immer noch erstaunlich jung. Von Natur aus war sie klein und schlank, mit einem eher zierlichen Körperbau. Ihr langes, dunkles Haar hatte sie wie üblich zu einem hohen Dutt hochgesteckt. Sie ließ ein paar Strähnen über ihr helles, strahlendes Gesicht fallen.

»Hailey!« Sie breitete ihre Arme aus und machte eine Bewegung in Richtung ihrer Tochter.

Wenige Sekunden später fielen sich die beiden Frauen in die Arme und kämpften mit den Tränen. Hailey entdeckte ihren Vater im Eingang des Hauses, der amüsiert den Kopf schüttelte.

»Bei Gott, du erwürgst sie ja!« seufzte er und stieg die zweistufige Treppe hinunter.

Er trug ein helles Hemd und eine schwarze Anzughose, in der er noch größer wirkte als er tatsächlich war. Er war immer noch ein gutaussehender Mann, mit einem stark ausgeprägten Kiefer und einem sanften Blick, aber Hailey bemerkte eine Veränderung an ihm. Sein schwarzes Haar war leicht ergraut, was ihn etwas älter machte, obwohl er immer noch jünger aussah, als es sein Geburtsdatum vermuten ließ.

Sie löste sich aus der Umarmung ihrer Mutter und fiel kurz darauf in die Arme ihres Vaters. Edward Warren lachte dieses leise, beruhigende Lachen, das seine Tochter schon als Kind geliebt hatte.

Erst in diesem Moment wurde Hailey bewusst, wie sehr sie das Lachen ihres Vaters, die Umarmungen ihrer Mutter und ihr Zuhause vermisst hatte.

Ein Leben in New York war wahrscheinlich der Traum vieler junger Menschen, Träume sind jedoch manchmal auch mit Enttäuschungen verbunden. Das Leben in dieser scheinbar märchenhaften Stadt hatte sich als große Herausforderung erwiesen. Man hatte ständig das Gefühl, an einem nicht enden wollenden Marathon teilzunehmen. Nichts freute Hailey also mehr, als zu wissen, dass sie hier in Philadelphia wenigstens einen Moment innehalten konnte.

Ihr Vater musterte sie von oben bis unten mit einem aufmerksamen Blick. Dann lächelte er noch ein wenig breiter: »Willkommen zu Hause, mein Schatz.«

»Du musst sehr hungrig sein!«, warf Kris ein und fasste ihre Tochter am Arm. Kurz darauf waren sie auf dem Weg zur Veranda. »Ich habe deine Lieblingsgerichte zubereitet: Lachs, Nudeln mit Brokkoli und Käseauflauf.«

Hailey warf einen Blick über die Schulter zu ihrem Vater, der belustigt den Kopf schüttelte und sich ihren Koffer schnappte. Als sie wieder ihre Mutter ansah, befand sie sich auch schon im Haus der Familie. Bevor sie sich umsehen konnte, wurde sie ins Wohnzimmer gezogen.

»Ich werde dir in der Küche helfen, Mum.«

»Ich will nichts davon hören!«, protestierte diese und setzte ihre Tochter an den runden Esstisch. »Du musst dich nach deiner Reise ausruhen«, verkündete sie. Sie ging an ihrem Mann vorbei und verschwand dann in den Tiefen des Hauses.

»Ich rate dir um unser aller Willen, auf sie zu hören.« Ihr Vater stellte den Koffer auf dem Boden ab, direkt neben einer alten, antiken Kommode. »Sie hat sich seit dem Morgengrauen auf deine Rückkehr vorbereitet.« Mit einem Seufzer ließ er sich auf einen der Stühle sinken. Er krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch. »Als ich ihr angeboten habe, die Nudeln zu kochen, hat sie mich praktisch vor die Tür gesetzt und gesagt, ich solle spazieren gehen.« Er schüttelte amüsiert den Kopf. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr wir dich vermisst haben.«

Hailey antwortete nur mit einem Nicken. Als sie den eher spontanen Entschluss gefasst hatte, so weit weg von zu Hause zu studieren, hatten ihre Eltern diese Entscheidung nur schwer akzeptieren können. Am Ende taten sie jedoch, was alle guten Eltern tun: Sie schoben ihre Sorgen beiseite und unterstützten ihre Tochter ohne Vorbehalte.

Das war eine der vielen Sachen, für die sie ihren Eltern sehr dankbar war.

»Wo ist Thomas?«, fragte sie.

»Er sollte bald hier sein.« Kris kehrte ins Wohnzimmer zurück und hielt eine duftende Auflaufform in den Händen.

»Er ist zu einem Treffen ins Stadtzentrum gefahren.« Edward warf seiner Frau einen Blick zu, während er ihr den Auflauf abnahm und ihn in der Mitte des Tisches abstellte.

»Es scheint ihm gut zu gehen, nicht wahr?«

Obwohl es viele Leute überraschte, protestierte Hailey nicht, als ihr zwei Jahre älterer Bruder die Hälfte des Familienunternehmens übernahm. Sie hatte immer gewusst, dass die Warren Company in Thomas‘ Händen besser aufgehoben war als in ihren.

»Ja«, antwortete ihr Vater. »Ziemlich.«

Seine Worte wurden durch das Zuschlagen einer Tür unterbrochen.

Hailey drehte den Kopf und im Eingang des Wohnzimmers erschien Thomas. Er war immer noch ein attraktiver Mann mit sanften Gesichtszügen und strahlenden grünen Augen. Trotzdem bemerkte sie in den wenigen Sekunden, in denen sie ihren Bruder ansah, viele Veränderungen an ihm. War es die etwas zu blasse Haut oder die angespannte Körperhaltung? Oder vielleicht das freudlose Lächeln, das auf seinem Gesicht erschien, als er seine jüngere Schwester sah? Ihr Blick ging noch tiefer, doch auf der Suche nach etwas Vertrautem fand sie etwas Anderes: Leere und Traurigkeit.

»Willst du nicht Hallo sagen?«, fragte er und zog eine dunkle Augenbraue hoch.

Das Mädchen nickte, sprang auf und fiel ihrem Bruder um den Hals. Er umarmte sie fest und hob ihre zierliche Gestalt leicht hoch.

Als ihre Turnschuhe wieder die Holzdielen berührten, sah sie Thomas an und zwinkerte ihm zu, wobei sie sich ein kleines Schmunzeln nicht verbergen konnte:

»Du hast abgenommen.«

»Und du bist an den Hüften gewachsen, Schwesterherz«, schnaubte er amüsiert, was Haileys Lächeln noch verbreiterte. Plötzlich war wieder der Thomas da, den sie kannte.

»Das Essen wird kalt!« Ihre Mutter seufzte schwer.

Thomas und Hailey tauschten mehrdeutige Blicke aus und setzten sich dann an den Tisch, so wie früher, als sie gemeinsam frühstückten, bevor sie zur Schule oder zur Arbeit gingen.

Kris nahm den Teller ihrer Tochter und belud ihn mit einer großen Portion Auflauf.

»Bist du mit nur einem Koffer zurückgekommen?«, fragte der Vater.

»Die übrigen Sachen sollten Anfang nächster Woche per Spedition eintreffen.«

»Wir haben so viel nachzuholen!«, warf Kris ein und nahm ihrem Sohn den Teller ab.

Thomas seufzte, als sie ihm eine große Portion Essen vorsetzte, bevor er überhaupt hätte protestieren können.

»Ich habe Tante Julie versprochen, dass wir sie und Onkel Jon besuchen werden, und dann müssen wir ...«

»Wir sollten ihr eine Pause gönnen, Schatz«, unterbrach Edward sie ruhig. »Ich bin sicher, sie ist müde.«

»Entschuldige bitte.« Seine Frau schüttelte den Kopf. »Du hast viel gelernt und viele Prüfungen hinter dir. Ich habe das völlig vergessen. Ruh dich so lange aus, wie du möchtest.«

»Eigentlich«, Hailey ließ ihren Blick über ihre Familie schweifen, »möchte ich so schnell wie möglich einen Job finden. Es gibt derzeit nur wenige Stellenanzeigen auf dem Markt, also werde ich mich vielleicht zunächst auf unser Unternehmen konzentrieren. Ihr könntet doch sicherlich Hilfe gebrauchen.«

Ihre Worte verursachten eine bedrückende Stille am Tisch.

»Wenn ihr das nicht wollt, suche ich mir etwas anderes«, wehrte sie ab und war überrascht von dem Ausdruck, der sich für einen Moment auf dem Gesicht ihres Vaters abzeichnete.

»Das ist nicht der Punkt, Liebes«, seufzte er. »Es ist nur ...«

»Dein Vater will damit sagen, dass du dir eine Pause gönnen solltest«, warf ihre Mutter ein und schaute Edward, der die Schultern hängen ließ, eindringlich an.

Thomas presste die Lippen zusammen und schob das Essen auf seinem Teller hin und her. Seine Gesichtszüge waren angespannt.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Hailey stirnrunzelnd.

»Nein, natürlich nicht«, antwortete Kris etwas zu schnell. »Iss, bevor es kalt wird.«

»Mum«, drängte sie und spürte, wie die Angst langsam in ihr hochstieg. Ihre Stimme zitterte. Sie sah zu ihrem Vater, der sich mit den Fingern durch sein kurzes Haar fuhr, und dann zu Thomas. »Wenn ihr mir etwas verschweigt ...«

»Du kannst nicht für die Firma arbeiten, Hailey«, antwortete Thomas. Dann hob er den Kopf und warf ihr einen müden Blick zu. »Weil sie praktisch nicht mehr existiert.«

Ihre Lippen verzogen sich zu einem verzerrten Lächeln. In der ersten Sekunde hielt sie die Worte ihres Bruders für einen schlechten Scherz. Erst nach einem Moment, als sich niemand bemühte, die Situation aufzuklären, murmelte sie:

»Das verstehe ich nicht.«

»Die Warren Company ist verschuldet.« Thomas‘ Stimme war seltsam hohl und streng. »Wir sind kurz vor der Insolvenz.«

»Thomas«, seufzte Kris.

»Sie sollte es wissen«, sagte dieser und sah Hailey immer noch an. »Ich weiß, dass du dir deine Rückkehr anders vorgestellt hast, Schwesterherz. Aber die Dinge sind in letzter Zeit nicht gut für uns gelaufen.«

Hailey sah ihren Vater an, der wortlos den Blick senkte. Sie schluckte ihre Überraschung nur mit Mühe hinunter.

»Ich habe ein paar Ersparnisse«, verkündete sie. »Ich kann ...«

»Wir haben eine halbe Million Dollar Schulden«, erklärte Thomas und ließ damit den Plan, der sich gerade im Kopf des Mädchens geformt hatte, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen.

Hailey sackte zusammen. Einerseits wollte sie fragen, warum ihre Familie sie nicht früher darüber informiert hatte, andererseits wusste sie, dass dies nicht der beste Zeitpunkt für Vorwürfe war.

»Sicherlich gibt es einen Ausweg.«

»Die Bank hat einer Ratenzahlung nicht zugestimmt, wir werden keinen Kredit bekommen und es gibt keine Möglichkeit, die Rückzahlung der Rückstände aufzuschieben.«

Hailey schloss für einen Moment die Augen. Plötzlich breitete sich ein starker Schmerz in ihren Schläfen aus und vertrieb den Frieden, von dem sie so lange geträumt hatte. Als sie ihre Augenlider hob, begegnete sie dem Blick ihres Vaters. Sie antwortete selbstbewusst:

»Das kriegen wir schon hin.« Ihr Blick wanderte zu ihrer Mutter und dann zu Thomas. »Gemeinsam. Ich bin mir sicher, dass wir es gemeinsam schaffen werden.« Sie zwang sich zu einem schwachen Lächeln. »Ich werde mit Meggie sprechen. Vielleicht bekomme ich einen Kredit.«

»Du hast keinen Job, Hailey«, seufzte Tom. »Und wir haben keine Zeit«, fügte er hinzu. »Wenn wir die Schulden nicht bis Ende der Woche begleichen, wird das Unternehmen versteigert und für einen symbolischen Preis verkauft«.

»Es kann gar nichts mehr getan werden?«, fragte sie. Ihre Stimme glich einem leisen Wimmern.

Im selben Moment, in dem er sie ansah, richtete auch sie ihren Blick auf Thomas. Sie bemerkte, dass sich die Lippen ihres Bruders leicht öffneten, um sich dann nach einem Moment wortlos wieder zu schließen. Die Muskeln seines Kiefers zuckten.

»Worum geht es?«, fragte sie. »Tom!«

Der junge Mann seufzte, ignorierte den tadelnden Blick seiner Mutter und sagte leise:

»Als sich die Bank schließlich geweigert hat, eine Einigung mit uns zu erzielen, habe ich beschlossen, den Ereignissen, die ohnehin eintreten würden, ein wenig vorzugreifen. Sharman Enterprises kauft hauptsächlich Anteile an gescheiterten Unternehmen auf und verkauft sie dann mit Gewinn weiter. Ich wusste, dass sie wahrscheinlich auch die Warren Company aufkaufen würden, und so habe ich mich gleich heute Morgen mit Victor Sharman getroffen.« Er schwieg einen Moment lang und runzelte die Stirn.

In Haileys Kopf hallten Meggies Worte wider, als sie an dem riesigen Gebäude aus schwarzem Glas vorbeigefahren waren.

Victor Sharman, wiederholte sie und spürte das Gewicht dieses Namens.

»Er hat sich bereiterklärt, die Schulden der Warren Company zu übernehmen.« Thomas richtete seinen Blick auf den leeren Raum vor ihm. »Ich habe abgelehnt.«

»Warum?«, Hailey zuckte zusammen.

»Es gibt also leider keine Möglichkeit mehr.«

»Warum hast du das Angebot abgelehnt?«, wiederholte sie und spürte, wie ihr Herz heftig schlug. »Wenn es die einzige Chance ist, sollten wir darüber diskutieren.«

»Er will dich.« Thomas‘ Stimme klang kalt.

Kris Warren riss ihren Kopf hoch. Ihr Mann schloss die Augen und seufzte schwer. Hailey erstarrte mit leicht geöffneten Lippen. Sie wollte laut loslachen, merkte aber schnell, dass das, was ihr Bruder gesagt hatte, kein Scherz war.

»Was soll das heißen?«

»Er sagte, er würde unsere Firma retten, wenn du seine Frau wirst«, erklärte er, als ob er selbst nicht an die Wahrheit seiner Worte glaubte. Er drehte langsam den Kopf und sah Hailey an. »Deshalb habe ich Nein gesagt.«

Sie hatte das Gefühl, als würde plötzlich etwas Schweres auf ihre Schultern fallen und sie nach unten ziehen, an einen Ort, an dem der ersehnte Seelenfrieden nicht auf sie wartete.

»Uns fällt schon etwas ein«, versicherte ihre Mutter mit schwacher Stimme. »Selbst wenn wir nicht ...« Sie verzog ihr Gesicht. »Alles wird gut werden.«

Hailey atmete tief und lange ein. Sie sah ihren Vater an und fragte dann:

»Kann ich mir dein Auto ausleihen?«

KAPITEL 2

Schon aus einiger Entfernung wirkte der Hauptsitz von Sharman Enterprises im Vergleich zu den übrigen Gebäuden der Stadt äußerst beeindruckend. Doch erst als Hailey direkt vor dem Haupteingang stand, wurde ihr die tatsächliche Größe des Wolkenkratzers bewusst. Er schien in den Himmel zu ragen und sich beinahe in den Wolken über der Stadt zu verfangen.

Meggies Worte klangen in ihrem Kopf nach: »Sein Unternehmen ist auf dem Weg nach oben. Es ist, als ob er eine Art Firmengott wäre.«

Hailey seufzte schwer und ging, die Hände zu Fäusten geballt, durch die Drehtür. Sie stieß fast mit einem Mann zusammen, der ihr einen vielsagenden Blick zuwarf und dann davoneilte.

Sie schaute sich um und ging langsam weiter, bis sie neben den Aufzügen den Empfangsbereich entdeckte. Hinter dem Tresen stand eine junge blonde Frau.

Das Innere des Gebäudes sah genauso kühl aus wie seine Fassade: ein heller Marmorfußboden, schwarze Wände mit goldenen Verzierungen sowie ein paar Ledersofas, die vermutlich als Sitzgelegenheit für wartende Kunden gedacht waren.

Die Empfangsdame zuckte zusammen, als Hailey ihre Hände auf die kalte, dunkle Platte des Tresens legte. Sie war wahrscheinlich nicht viel älter als sie selbst und trug einen Bleistiftrock kombiniert mit einer weißen, eleganten Bluse. Das Lächeln, das auf ihrem Gesicht erschien, wirkte aufgesetzt.

»Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«, fragte sie höflich.

»Ich suche nach«, Hailey zögerte, sie musste einmal tief durchatmen, um sich zu sammeln, »Victor Sharman.«

»Haben Sie einen Termin?« Die Empfangsdame beugte sich über den Bildschirm eines kleinen Laptops und tippte eilig etwas auf der Tastatur. »Soweit ich sehen kann, hat CEO Sharman in der nächsten Stunde keinen Termin.«

»Ich habe keinen Termin«, antwortete sie. »Aber ...«

»In diesem Fall tut es mir wirklich leid.« Die Blondine ließ Hailey nicht ausreden. »Der Vorsitzende empfängt niemanden ohne vorherige Anmeldung.«

»Sie sagten, er habe gerade keinen Termin, und es sollte nicht länger als ein paar Minuten dauern. Es ist wirklich wichtig. Kann man denn gar nichts machen?«

Die Empfangsdame seufzte.

»Ich kann die persönliche Sekretärin des Vorsitzenden anrufen, aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass er Zeit für Sie haben wird.«

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar.«

»Ihr Name?« Sie schaute wieder auf den Bildschirm des Laptops.

»Warren. Hailey Warren.«

Die Frau runzelte die Stirn. Sie tippte etwas auf der Tastatur ein, löschte es und wiederholte beide Vorgänge noch zwei weitere Male. Dann hob sie endlich den Kopf, sah Hailey an und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, ganz anders als das, das noch vor wenigen Augenblicken auf ihrem Gesicht erschienen war.

»Es sieht so aus, als würde Mr Sharman Zeit für Sie haben, Miss Warren«, verkündete sie und stand auf. Sie deutete mit der Hand auf einen von mehreren Aufzügen. »Bitte nehmen Sie den vierten Aufzug und fahren Sie in den 58. Stock. Die Sekretärin wird Sie zum Büro des Vorsitzenden führen.«

Hailey, immer noch leicht irritiert von der plötzlichen Veränderung in der Haltung der Frau, antwortete nur mit einem Nicken. Als sie den Aufzug betrat und die Etagennummer wählte, schlossen sich die Metalltüren vor ihr, und von allen Seiten umgab sie eine tiefe Stille.

Sie wollte plötzlich lachen. Die ganze Situation hätte von außen betrachtet wirklich komisch sein können, wie das Drehbuch einer Fanfiction, die sie als Teenager geschrieben hatte. Doch sie brachte nicht einmal ein kleines Lächeln zustande, denn sie spürte wieder denselben Zorn, der bereits in ihr aufgestiegen war, als Thomas ihr den Preis mitgeteilt hatte, den Victor Sharman für die Rettung des Familienunternehmens genannt hatte. Sie empfand Wut, Enttäuschung und eine seltsame Traurigkeit, weil sie wie eine Sache, die man sich einfach wünschen kann, behandelt wurde.

Sie richtete sich auf, als der kleine Raum des Aufzugs von einem markanten, kurzen Ping erfüllt wurde. Die Türen glitten auf und Hailey stand in einem breiten Korridor. Nachdem sie sich hastig umgesehen hatte, beschloss sie, nach rechts zu gehen. Sie fand schnell die Sekretärin, von der die Empfangsdame gesprochen hatte. Die blonde Frau erhob sich mit einer schnellen und eleganten Bewegung von ihrem Schreibtisch. Auf ihrem gebräunten Gesicht erschien ein professioneller Ausdruck.

»Miss Warren.« Ihre Stimme klang warm. Sie trat hinter ihrem Schreibtisch hervor. »Folgen Sie mir«, fügte sie hinzu, drehte sich nach links und verschwand hinter der Wand des angrenzenden Flurs.

Hailey lief hinter der Frau her und sah sich vorsichtig um. Die hellgrauen Wände waren leer und kalt. Sie gingen an mehreren Türen vorbei, ehe sie vor der scheinbar richtigen stehen blieben. Sie war aus schwarzem Holz und mit einer goldenen Plakette versehen, auf der der Name eines Mannes stand, den Hailey bis jetzt nicht näher kannte.

Victor Sharman.

Wieder einmal erinnerte sie sich an Meggies Worte, die sich als prophetisch erwiesen: »Du wirst ihn oft hören, jetzt wo du wieder in Philadelphia bist.«

»Bitte treten Sie ein, der Vorsitzende ist über Ihren Besuch informiert.« Die Sekretärin faltete ihre Hände vor sich und ging schließlich davon.

»Danke«, murmelte Hailey unsicher und schaute der Frau hinterher. Sie blickte auf die Tür vor ihr.

Sie hatte ihr Elternhaus zornig und verärgert verlassen. Sie hatte sich nicht genau überlegt, was sie in der Firma dieses Mannes eigentlich tun wollte. Zu diesem Zeitpunkt war sie einfach nur wütend gewesen, und das war alles, was gezählt hatte. Jetzt aber hatte sich der Zorn etwas gelegt und wurde von einer leichten Angst überlagert.

Alles, was sie in der letzten Stunde über Victor Sharman gehört hatte, hatte in ihrem Kopf ein seltsam beängstigendes Bild von ihm gezeichnet. Sie atmete tief durch, um alle Zweifel zu vertreiben, und griff nach der Türklinke. Sie stieß die Tür auf und trat ein.

»Ich weiß nicht, wie groß Ihr Ego sein muss, um zu glauben, dass ...«, sie brach mitten im Satz ab, als sie plötzlich vom hellen Flur in einen dunklen, riesigen Raum trat. Schwarze Wände umgaben sie von allen Seiten, als wäre die Nacht über Hailey hereingebrochen.

Sie öffnete ihre Lippen etwas und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Ihr Blick fiel auf den großen Schreibtisch und die Fenster, die von der Decke bis zum Boden reichten. Vor dem Hintergrund der Skyline stand ein Mann.

Ihre Hand umklammerte die Türklinke, als er sich umdrehte und seinen Blick auf sie richtete. Sie fühlte sich in die Enge getrieben.

Plötzlich verstand sie, warum die Menschen in dieser Stadt Victor Sharman für einen Gott hielten. Ein Blick von ihm genügte, um eine Person verstummen zu lassen. Hailey erfuhr dies gerade am eigenen Leib. Sie konnte die Wut, die sie dazu getrieben hatte, an diesen Ort zu kommen, nicht wiederfinden.

Sie stand einfach da, zwischen dem hellen Korridor und dem dunklen Inneren des Büros, und sah den Mann an, der ihr die lang ersehnte Rückkehr nach Philadelphia verdorben hatte.

Victor Sharman war mehr als einen Kopf größer als sie. Seine athletische Figur wurde durch einen perfekt geschnittenen schwarzen Anzug noch betont.

Hailey konnte ihren Blick nicht von dem Gesicht des Mannes abwenden. Seine Haut hatte den perfekten Farbton, nicht zu olivfarben, aber auch nicht ganz blass. Die hohen Wangenknochen und der stark ausgeprägte Kiefer ließen sein Gesicht streng erscheinen. Als er den Kopf zur Seite neigte, fiel ihm eine schwarze Haarsträhne in die Stirn.

Seine vollen Lippen öffneten sich und er sprach mit samtiger, tiefer Stimme:

»Hailey.«

Ihr Name klang aus seinem Mund seltsam lässig und leicht, als wären sie keine Fremden.

Seine Stimme versetzte ihr einen Stich ins Herz.

»Du hast über die Größe meines Egos gesprochen«, erinnerte er sie ruhig und umrundete den Schreibtisch. Er blieb direkt davor stehen und lehnte sich an die Kante der Tischplatte. »Willst du mich weiterhin beleidigen, oder bist du damit einverstanden, wenn wir uns hinsetzen und miteinander reden?«

Ein Schnauben kam aus ihrem Mund. Sie hatte es vorher nicht bemerkt, aber sie muss komisch ausgesehen haben mit ihrem vor Wut verzerrten Gesicht, in einem Sommerkleid, verwaschenen Turnschuhen und zwei verschiedenfarbigen Socken.

»Ich bin nicht hergekommen, um mit Ihnen zu reden.« Sie machte einen Schritt nach vorne und ließ endlich die Türklinke los, an der sie sich noch immer festgehalten hatte. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, und ich will es auch gar nicht wissen, aber halten Sie sich verdammt noch mal von mir und meiner Familie fern, Victor Sharman.« Ihre Stimme klang hohl und trocken. »Ich kenne Menschen wie Sie. Ihr glaubt, dass ihr andere Menschen wie Objekte behandeln und euch alles nehmen könnt, was ihr wollt, nur weil ihr Geld habt«, rief sie aufgebracht.

Sharman beugte sich vor, seine Mundwinkel zuckten nach oben, dann stand er auf und ging langsam auf Hailey zu. Er blieb stehen, bevor sie einen Schritt zurückgehen konnte.

Sie konnte nicht genau sagen, warum, aber irgendetwas an seiner Haltung löste in ihr eine gewisse Unruhe aus.

»Dein Bruder ist heute Morgen hier aufgetaucht«, begann er. Er ließ seinen Blick über die dunklen Wände des Arbeitszimmers schweifen. »Fast auf den Knien hat er mich angefleht, die Firma eurer Familie zu retten.« Er hielt seinen Blick auf Hailey gerichtet. Seine Augen hatte einen so dunklen Grauton, dass sie fast ins Schwarze kippten. »Ich habe ihm meine Hilfe zugesagt, natürlich zu meinen Bedingungen.« Er hob eine dunkle Augenbraue. »Ich tue nichts umsonst, und Geld spielt für mich keine Rolle, also habe ich für die Rückzahlung der Schulden der Warren Company etwas gefordert, das ich noch nicht besitze.«

»Und was Sie nicht besitzen werden«, warf sie ein und ballte ihre Hände zu Fäusten. Ihre Nägel bohrten sich schmerzhaft in ihre Haut, aber sie versuchte, ihre Nerven unter Kontrolle zu behalten. »Niemals«, fügte sie entschlossen hinzu.

Victor Sharmans Mund verzog sich zu einem Lächeln. Seine Haltung kam Hailey seltsam vor: In einem Moment wirkte er wie ein freundlicher und sanfter Mann und im nächsten kroch eine undefinierbare Finsternis aus ihm heraus.

Als sie auf die Highschool kam und das Unternehmen ihrer Eltern eines der größten seiner Branche war, lernte sie viele Menschen wie Victor Sharman kennen – reich, mit praktisch allem, was man besitzen konnte, ausgestattet, und die Grenzen zwischen dem, was man kaufen konnte, und dem, was unbezahlbar war, nicht beachtend.

Sie hatte diese Leute schon damals verachtet.

»Was den Vorschlag betrifft, den Sie meinem Bruder gemacht haben, so lautet meine Antwort nein«, sagte sie.

Der Mann runzelte die Stirn, ganz so, als sei er Widerspruch nicht gewohnt. Schließlich seufzte er, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und senkte den Kopf.

Die Gelassenheit, die von ihm ausging, ließ die Wut in Hailey wieder aufsteigen. Es gelang ihr jedoch, diesen plötzlichen Gefühlsausbruch unter Kontrolle zu bringen. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, dass Sharmans lässiges Verhalten sie aus dem Konzept brachte. Männer wie er warteten nur auf den Moment, um sicher sein zu können, dass sie die Kontrolle über die Situation haben.

»Nina«, sagte er.

Hinter Haileys Rücken erschien die Sekretärin.

»Ja?«

»Bitte begleiten Sie meinen Gast zum Ausgang«, bat er und warf der Angestellten einen kurzen Blick zu. Dann richtete sich sein Blick wieder auf Hailey. »Ich hoffe, wir werden uns bald wiedersehen, Miss Warren.«

Sie trat einen Schritt zurück. Sie reagierte nicht auf die Worte, die aus dem Mund von Victor Sharman kamen. Mit manchen Menschen sollte man keine Zeit verschwenden. Dann wandte sie sich ab, schaute die Sekretärin an und folgte ihr durch den hellen Flur.

»Warum behandelt ihn jeder in dieser Stadt wie einen verdammten Gott?«, zischte sie leise.

Die Frau sah sie aus den Augenwinkeln an, als sie am Eingang des Aufzugs stehen blieben.

»Ich danke Ihnen.« Hailey nickte ihr zu, worauf diese nur mit einem Lächeln antwortete.

Als sie den Aufzug betrat und sich vorbeugte, um den entsprechenden Knopf auf der Anzeige zu drücken, wurde die Stille von Ninas Stimme durchbrochen:

»Miss Warren.«

Hailey richtete ihren Blick auf sie.

»Ja?« Sie drückte die Nummer, die für das Erdgeschoss stand.

»Sie irren sich.«

»Wie bitte?«

»Victor Sharman ist kein Gott.« Die Worte der Frau klangen noch eine Sekunde nach, bevor sich die Aufzugstüren endgültig schlossen: »Er ist der Teufel.«

***

Vom 58. Stock aus erschien Hailey Warrens Silhouette wie ein kleiner Punkt in der Menschenmenge unten auf der Straße. Victor konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber er war sich sicher, dass es immer noch denselben aufgebrachten Ausdruck zeigte, den es während ihres kurzen Gesprächs gehabt hatte.

Er musste unwillkürlich grinsen, als er sich daran erinnerte, wie sie in sein Büro gestürmt war, wütend wie ein Kind.

Das Geräusch von Stöckelschuhen, die auf Marmorboden aufschlugen, unterbrach für einen Moment seine Gedanken an die Frau, mit der er noch vor ein paar Minuten gesprochen hatte.

»Nina.«

»Ja, Sir?«

»Sie können heute früher nach Hause gehen«, verkündete er. »Ich habe einige Angelegenheiten außerhalb der Firma zu erledigen. Dabei brauche ich Ihre Hilfe nicht.«

»Ja, natürlich.«

***

Gegen Mittag traf Hailey wieder im Haus ihrer Eltern ein. Sie parkte den Wagen in der Einfahrt, kurz vor der Garage, und ging den Weg zur Haustür hinauf.

Sie sah ihren Vater auf der Veranda. Er saß auf einer weißen Bank und hielt eine Tasse Kaffee in der Hand.

»Ich habe getankt«, verkündete sie und zog die Schlüssel aus ihrer Manteltasche. »Voll«, fügte sie hinzu und reichte sie ihrem Vater zurück.

Edward Warren schenkte seiner Tochter ein Lächeln, das ihre angespannten Nerven zu beruhigen vermochte. Zu Haileys Überraschung fragte er nicht nach dem Verlauf ihres Besuchs bei Sharman Enterprises. Also beschloss sie, das Thema selbst anzusprechen:

»Wir schaffen das schon, Dad. Ich bin mir sicher, dass uns etwas einfallen wird.«

»Natürlich«, stimmte er ihr zu. »Du solltest deiner Mutter helfen. Sie ist in der Küche.«

»Und Thomas?«, fragte sie.

»Er ist in die Firma gefahren.«

Hailey spürte plötzlich, wie müde sie war. Ihre Schläfen begannen zu pochen und eine unerträgliche Last drückte auf ihre Schultern.

Sie fand ihre Mutter in der Küche vor. Sie räumte gerade die Teller ab und stellte das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine. Als sie ihre Tochter sah, stellte sie keine der Fragen, auf die Hailey sich innerlich auf dem Rückweg nach Hause schon eingestellt hatte.

»Lass mich dir helfen, Mum.«

»Ruh dich etwas aus, Hailey«, empfahl sie. »Du solltest nach deiner Reise etwas schlafen. Das wird dir guttun, du bist furchtbar blass, mein Schatz.«

Das Mädchen holte tief Luft. Ein Teil von ihr wünschte sich, ihre Eltern wären nicht so ruhig. Ruhe konnte nur eines bedeuten: Sie hatten sich bereits mit der Tatsache abgefunden, dass das Familienunternehmen und alles, wofür sie in den letzten Jahrzehnten gearbeitet hatten, verloren war.

»Wenn das so ist, dann lege ich mich hin«, sagte sie leise. Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie durch den Flur in Richtung Treppe.

Ihr altes Zimmer befand sich im Obergeschoss und sah noch genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte: ein Raum mit einem weißen Bett, einem Schreibtisch, einem Durchgang zu einem kleinen Ankleidezimmer und einem Badezimmer nebenan.

Mit einem schweren Seufzer ließ sie sich auf die weiche Matratze fallen. Die farbenfrohe Bettwäsche war frisch und duftete nach Blumen. Der angenehme Geruch ließ Hailey ein wenig entspannen. Sie war wirklich müde, und die Probleme, mit denen ihre Familie konfrontiert war, hatten ihr endgültig den Seelenfrieden genommen, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte, als sie New York verlassen hatte.

Langsam richtete sie sich in eine sitzende Position auf. Sie zog ihren Mantel aus und nahm ihr Telefon aus der Tasche. Sie schrieb eine kurze Nachricht an Meggie, in der sie ihrer Freundin mitteilte, dass sie am nächsten Morgen früh im Café vorbeikommen würde.

Dann legte sie sich wieder hin und schloss die Augen. Statt der Dunkelheit sah sie jedoch einen Mann in einem schwarzen Anzug vor sich, der vor der Skyline der Stadt stand und lachte, als gehöre ihm die Welt.

Sie öffnete ihre Augen und richtete den Blick an die Zimmerdecke.

»Wer bist du, Victor Sharman?«, flüsterte sie.

KAPITEL 3

»Du solltest etwas essen, bevor du losgehst.« Kris Warren stand in der Tür zwischen Küche und Flur und schüttelte den Kopf.

Hailey warf sich ihren Mantel über, rückte den Stoff ihres grauen Sweatshirts zurecht und lächelte ihre Mutter an.

»Ich bin mit Meggie verabredet. Ich werde in ihrem Café etwas essen«, versicherte sie. »Ich verspreche es«, fügte sie hinzu, wohl wissend, dass keine Worte eine so sturköpfige Frau wie ihre Mutter überzeugen würden.

»Komm einfach zum Mittagessen nach Hause, okay?«, seufzte diese und gab schließlich auf. Gerade als sie in der Küche verschwinden wollte, fiel ihr plötzlich etwas ein: »Ah, ein paar Tage vor deiner Rückkehr habe ich mit Mary gesprochen. Ich sollte sie auf einen Kaffee einladen. Sie und Greg haben dich wirklich vermisst.«

Hailey zwang sich zu einem Lächeln. Die Calloways wohnten ein paar Häuser weiter in der gleichen Straße, waren mit ihren Eltern befreundet und hatten sie als Kind wie ihre eigene Tochter behandelt.

»Sicher, Mum.« Sie griff nach den Schlüsseln, die auf einem Tisch in der Nähe lagen. »Dad wird doch sicherlich nicht böse sein, wenn ich mir noch einmal sein Auto ausleihe, oder?«

»Natürlich nicht, mein Schatz. Er und Thomas werden wahrscheinlich den ganzen Tag in der Firma verbringen.« Sie verstummte für einen Moment. »Ich bin mir sicher, er wird es nicht einmal bemerken. Nun geh und grüß Meggie von mir. Pass auf dich auf, fahr vorsichtig.«

»Mum«, warf sie sanft ein. »Ich bin kein kleines Kind mehr, okay?«

»Für mich wirst du immer meine kleine Hailey bleiben.« Ein Schatten zeichnete sich auf dem Gesicht ihrer Mutter ab.

Hailey machte einen Schritt nach vorne und umarmte ihre Mutter.

»Ich werde Spaghetti mit Pesto zubereiten« flüsterte Kris, als wolle sie das Thema wechseln, um nicht zu weinen. »Sei einfach zum Mittagessen wieder da, okay?«

»Okay, Mum.«

Der alte Chevrolet sprang erst beim dritten Versuch an. Hailey brauchte mehr als zwanzig Minuten, um ins Stadtzentrum zu fahren, aber als sie schließlich vor dem Eingang des Blue Coffee stand, schlich sich ein zufriedenes Grinsen auf ihr Gesicht. Meggie hatte von ihrem eigenen Café geträumt seit – nun, eigentlich seit immer. Hailey war stolz darauf, dass ihre Freundin es geschafft hatte.

Als sie die Tür aufstieß und eintrat, läutete die Glocke, die über der Tür hing, leise. Der Innenraum des Cafés war klein, aber sehr gemütlich: Die blauen Wände mit den aufgemalten Wolken fielen einem sofort ins Auge, genau wie die blau-weißen Sofas und runden Tische. Mehrere von ihnen waren besetzt.

Gegenüber vom Eingang, auf der anderen Seite des Raumes, befand sich die Theke. Links und rechts davon standen Vitrinen, in denen bunte Köstlichkeiten ausgestellt waren: Muffins, Torten und Donuts.

Hailey war bewusst, wie viel Herzblut Meggie in diesen Laden gesteckt hatte. Jedes Detail, von den Servietten bis hin zu den Bildern an den Wänden, war sorgfältig ausgewählt worden.

»Entschuldigung.« Sie blieb an der Theke stehen, hinter der ein dunkelhaariges Mädchen in einem blauen Kleid und einer blauen Schürze mit dem Blue Coffee-Logo stand.

Bevor Hailey noch etwas sagen konnte, erschien Meggie schon. Sie legte den Ordner, den sie in den Händen hielt, ab, trat hinter dem Tresen hervor und umarmte Hailey.

»Ich konnte nicht mehr schlafen, seit du gestern geschrieben hast, dass du gleich morgen vorbeikommst, weil du mir etwas sagen musst.« Meggie löste sich von ihrer Freundin. In dem roten Pullover und der dunklen Jeans sah sie wirklich gut aus. »Worum geht es?«

»Vielleicht sollten wir uns dafür lieber hinsetzen.«

»Ja, sicher.« Sie zog Hailey zu einem der freien Tische. »Zwei Milchkaffees bitte, Clary«, rief sie der Angestellten zu.

Hailey zog ihren Mantel aus und warf ihn über die Rückenlehne eines Stuhls, auf den sie sich dann setzte. Meg beobachtete sie die ganze Zeit.

»Und?« Sie bewegte sich nervös. »Sag mir bloß nicht, dass du gleich am ersten Tag deiner Rückkehr auf Calloway gestoßen bist.«

»Nein«, seufzte sie und sah sich um. Keiner der Anwesenden schien sich für die beiden zu interessieren, trotzdem senkte sie ihre Stimme und beugte sich zu ihrer Freundin. »Wusstest du, dass die Firma meiner Eltern in Schwierigkeiten ist?«, fragte sie.

Meggie öffnete ihre Augen ein wenig weiter. Leider war sie schon immer eine schlechte Schauspielerin gewesen.

»Du hast es also gewusst.«

»Hailey, ich ...«

»Warum hast du mir nichts gesagt, Meg?«, stöhnte sie.

»Thomas hat mich darum gebeten«, antwortete sie. »Wir haben uns getrennt, aber als ich erfahren habe, dass eure Firma verschuldet ist, habe ich deinem Bruder angeboten, ihm meine Ersparnisse zu leihen. Verglichen mit den Schulden der Warren Company wäre das jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen.« Sie wurde sichtlich betrübt. »Ich weiß, dass ich es dir hätte sagen sollen, aber du hast dich so auf deine Heimkehr gefreut, und ich wollte sie dir nicht verderben, Hailey.«

»Ich fürchte, dafür ist es jetzt zu spät.« Hailey fuhr sich mit der Hand durch ihre Haare. »Ich war mir so sicher, dass es dem Unternehmen gut geht.«

»Soweit ich weiß, haben die Probleme angefangen, kurz nachdem Thomas die Hälfte der Aktien übernommen hat. Offenbar hat er das Geld investiert, und irgendetwas ist dabei schiefgelaufen.« Meggie hielt inne. »Es tut mir leid, Hailey. Wenn ich dir irgendwie helfen kann?«

»Victor Sharman hat zugestimmt, die Schulden der Warren Company aufzukaufen«, warf sie in den Raum und starrte ausdruckslos auf das Bild, das hinter ihrer Freundin hing. Es zeigte ein Sonnenblumenfeld im Licht der aufgehenden Sonne.

»Sharman?«, wiederholte diese. Ihre Stimme zitterte. »Soweit ich weiß, ist es das, was seine Firma tut. Er kauft bankrotte Unternehmen auf, bringt sie wieder auf die Beine und verkauft sie dann mit großem Gewinn weiter.«

»Er sagte, er würde es tun, wenn ich bereit wäre, seine Frau zu werden.« Wieder ließ sie Meg nicht ausreden, aber vielleicht waren die Worte auch wie von selbst aus ihrem Mund gepurzelt.

Meggie schnappte nach Luft. Dann bewegte sie leicht ihre Lippen, die sich schließlich zu einem Lachen formten. Sie glaubte, es sei ein besonders schlechter Scherz, genau wie Hailey es am Tag zuvor gedacht hatte.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Meg begriff, wie falsch sie damit lag.

»Du? Die Frau von Victor Sharman?«, quietschte sie.

Clary blieb abrupt in der Nähe ihres Tisches stehen. Eine große weiße Tasse fiel ihr aus der Hand und landete mit Schwung auf dem Boden. Der Kaffee ergoss sich auf die hellen Holzdielen.

»Oh Gott, es tut mir so leid, ich räume das sofort auf!«, rief sie panisch, und war schon einen Moment später auf dem Weg in Richtung Tresen.

Hailey richtete ihren Blick wieder auf Meggie: Überraschung und leichter Unglaube waren im Gesicht ihrer Freundin zu finden.

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich auch nicht«, seufzte sie.

»Du warst fünf Jahre lang weg, kommst zurück und plötzlich will Victor Sharman, dass du ihn heiratest, um die Firma eurer Familie zu retten? Das klingt wie ...«

»Das Drehbuch eines schlechten Films. Ich weiß, Meggie.« Sie stützte ihre Ellenbogen auf dem Tisch ab. »Ich war genauso schockiert wie du, als Thomas mir gestern davon erzählt hat.«

»Bist du einverstanden?«

»Nein!« rief sie. »Nein, natürlich nicht.«

Meggie spitzte nachdenklich die Lippen.

»Eigentlich ...«, sie zuckte mit den Schultern. »Das ergibt Sinn.«

»Sinn?«, wiederholte Hailey verwirrt.

»Hör zu, Sharman ist im ganzen Land bekannt. Wenn jemand bekannt ist, macht das neugierig, verstehst du? Wenn jemand wie Victor Sharman buchstäblich aus dem Nichts auftaucht und innerhalb weniger Jahren ein Unternehmen hochzieht, das den gesamten Markt beherrscht, möchte man wissen, woher der Kerl kommt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Man gibt seinen Namen in eine Suchmaschine ein und – nichts. Überhaupt nichts. Keinerlei Informationen über seine Vergangenheit, seine Familie oder gar seinen zweiten Vornamen. Eine Zeit lang gab es sogar das Gerücht, dass er gar nicht existiere. Man sieht ihn nur selten, er wohnt angeblich außerhalb der Stadt und pendelt zwischen Haus und Firma hin und her.«

»Ich verstehe immer noch nicht, worauf du hinauswillst, Meg.«

»Geheimnisse, meine Liebe, wecken Neugier, und Neugier Gerüchte. Es gab in der Tat viele davon über Victor Sharman. Einmal hat eine Klatschseite geschrieben, er sei bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Als sich herausstellte, dass es nicht stimmte, haben sie das Gerücht in die Welt gesetzt, dass er vielleicht schwul sei, weil er keine Frau hat. Damals fielen dadurch die Aktien seines Unternehmens. Vielleicht hat er beschlossen, die Gelegenheit zu ergreifen?«

»Und diese Gelegenheit bin ich?«

»Er hätte quasi alles dafür verlangen können, dass er die Firma deiner Eltern rettet, aber Leute wie er haben schon alles. Vielleicht dachte er, eine Heirat, selbst eine erkaufte, würde die Gerüchte endlich beenden?« Sie war in Gedanken versunken. »Außerdem«, sie lehnte sich zu Hailey herüber, »war das Unternehmen deiner Eltern doch der größte Konkurrent von Sharman Enterprises