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Isabella steht vor einem Problem: Um zu verhindern, dass sie das wunderschöne Gutshaus ihrer Familie in Riva an ihren Cousin verliert, muss sie bis zu ihrem vierzigsten Geburtstag heiraten. Dieser steht jedoch bereits morgen an und kurz vorher hatte sie sich von ihrem Verlobten Emanuele getrennt. Wie soll sie in so kurzer Zeit einen Ehemann finden und ihr Traumhaus retten?
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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2020
© 2020 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
www.rosenheimer.com
Titelfoto: © Klaus G. Förg
Lektorat: Beate Decker, München
Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau
eISBN 978-3-475-54872-7 (epub)
Worum geht es im Buch?
Gabriele Raspel
Italienischer Traum am Gardasee
Isabella steht vor einem Problem: Um zu verhindern, dass sie das wunderschöne Gutshaus ihrer Familie in Riva an ihren Cousin verliert, muss sie bis zu ihrem vierzigsten Geburtstag heiraten. Dieser steht jedoch bereits morgen an und kurz vorher hatte sie sich von ihrem Verlobten Emanuele getrennt. Wie soll sie in so kurzer Zeit einen Ehemann finden und ihr Traumhaus retten?
1
Isabella öffnete die Augen und wie immer war sie auf der Stelle hellwach. Sie stand auf und schaute verträumt aus dem offen stehenden Fenster zum See.
Es war der erste Advent, und der strahlend schöne Morgen verhieß einen perfekten Tag. Wie immer genoss sie einen Moment still das Panorama, das sich vor ihrem Zuhause erstreckte, einem ehemaligen Gutshof mit weitläufigem Park ein wenig außerhalb von Riva. Im Osten durch den Monte Brione, im Westen durch den Monte Rocchetta begrenzt und auf einer kleinen Halbinsel gelegen, bot der Wohnsitz einen traumhaften und vor allem ungestörten Blick auf den Gardasee. Die Bezeichnung Park war wegen seinen prächtigen Baumriesen und seltenen Sträuchern keineswegs übertrieben. Gutshof klang allerdings weit hergeholt. Das dreistöckige Haus mit dem Turm an seiner Ostseite wirkte aus der Ferne zwar stattlich, doch wenn man sich ihm näherte, glich es immer mehr einer gebrechlichen, ehemals eleganten Dame, die sich, gebückt von den Zeichen der Zeit, nur noch mühevoll auf den Beinen hielt.
Isabella schirmte die Augen vor der Sonne ab, die über dem mächtigen Rücken des Monte Baldo aufgegangen war und bereits jetzt um halb neun mit gleißender Helligkeit blendete. Gestern Nachmittag war sie mit Chiara und Elisa in freudiger Adventsstimmung durch das vorweihnachtlich geschmückte Riva gebummelt, alle drei ausgestattet mit Einkaufskarren, um gewaltige Gebinde von Tannen- und Koniferengrün, Kerzen und Adventskränze für den heutigen ersten Advent zu transportieren. Wie üblich wurde das Haus üppig geschmückt – es glitzerte verschwenderisch, und bis in den hintersten Winkel verbreiteten sich die betörenden Düfte des Tannengrüns und der Unmengen selbstgebackener Plätzchen, die so mundeten, dass die meisten das Fest nicht erlebten. In diesem Jahr gab es reichlich Eukalyptuszweige, deren rosafarbene Blüten alle bezauberten.
Das malerische und gerade zu dieser Jahreszeit beschauliche Riva, zum Trentino gehörend, lag in voller Sonne, allerdings war es mehr ein Städtchen des Schattens, in dem die Sonne im Sommer bereits um sechzehn Uhr hinter den Bergen verschwand. Dies schien jedoch niemanden zu stören, im Gegenteil, im Sommer wurde in dieser mit Hitze verwöhnten Region Schatten vor allem von seinen fast siebzehntausend Einwohnern immer sehr begrüßt.
Ausgeruht und guter Laune und seit ihrer Kündigung mit viel Zeit gesegnet, beschloss Isabella, Emanuele zu einem letzten Ausflug für dieses Jahr zu überreden. Ihr Freund war kein Bewegungsmensch, aber es galt ja keinen Berg zu erklimmen, es gab hier am Gardasee unendlich viele Möglichkeiten, das herrliche Wetter zu nutzen.
Kurz entschlossen rief sie ihn an. Geduldig ließ sie es lange klingeln, aber es war ja auch noch früh am Morgen. In diesem Jahr stand ihr Freund in seinen freien Wochen immer später auf, sinnierte sie. Schade eigentlich, denn auch am Abend verabschiedete er sich zusehends früher. Er hatte von Natur aus eine helle Hautfarbe, doch in letzter Zeit schien er immer blasser und er war angespannt, reagierte zusehends gereizt auf jede ihrer harmlosesten Äußerungen. Nicht, dass er ihr schließlich noch mit einem Burnout zusammenbrach.
Sie wollte gerade auflegen, da nahm er das Gespräch entgegen. »Oh, hallo, Schatz«, begrüßte sie ihn mit heiterer Stimme. »Ich hoffe, ich hab dich jetzt nicht geweckt.«
»Doch, hast du«, kam die brummige Antwort.
Isabella rollte die Augen. Nein, Emanuele war noch nicht ausgeschlafen, ihr Pech. »Ich meine nur … Es ist so schönes Wetter. Hättest du nicht Lust, mit mir eine Tour zu unternehmen? Wir könnten am Tennosee ein wenig spazieren gehen und es mit einem Besuch des Varone-Wasserfalls verbinden.« Der Weg führte durch eine landschaftlich interessante Region, die sie sehr liebte. Der Tennosee war ein typischer Bergsee auf fünfhundertsiebzig Metern am Fuße des Monte Misone. Man nannte ihn auch »Lago Azzuro«, was er seiner Farbe in Türkis bis Himmelblau zu verdanken hatte. Jetzt im Spätherbst war der See nach den Regenfällen der letzten Tage wahrscheinlich wieder besonders angestiegen. Das versickerte Wasser des Sees stürzte später in dem spektakulären Wasserfall von Varone durch eine neunzig Meter tiefe Schlucht unterhalb von Tenno hinab und gehörte zu einem der vielen beeindruckenden Naturschauspiele im Hinterland von Riva. »Oder wir machen einen Bummel unten am See«, schlug sie vor.
»Herrje, hatte ich dir nicht letztens gesagt, dass morgen meine Fortbildung beginnt? Glaub mir, da steht mir der Sinn nicht gerade nach einer Tour. Ich muss noch ein paar Sachen waschen und dann packen. Du weißt doch, wie so was ist.«
Nein, sie wusste nicht, wie so was war. Wenn sie auf Reisen ging, was selten vorkam, dann mit leichtem Gepäck. Packen bedeutete für sie einen Aufwand von einer halben Stunde. Aber sie schluckte ihren Unmut hinunter. Emanuele war halt nicht so belastbar wie sie. Dabei sollte man das bei einem Kapitän zur See eigentlich voraussetzen. Doch wie er ihr in einer weinseligen Minute einmal verraten hatte, hatte er diesen Beruf lediglich ergriffen, weil der ihm das Gefühl gab, stets die Möglichkeit zu haben, zu verschwinden, wohin auch immer. Außerdem, fügte er nuschelnd hinzu, habe es ihm die Kapitänsmütze angetan.
Im Stillen fragte sie sich, wieso ein Mensch mit einem Schifffahrtspatent Fortbildungen in so kurzen Abständen besuchen musste. Das war schon seine zweite in diesem Jahr. Seine Arbeitszeit, drei Monate auf See, drei Monate frei, war natürlich nicht mit der eines Büromenschen zu vergleichen. Aber mussten es in seiner Freizeit zwei Wochen Fortbildung sein? Egal. Bis seine nächste Fahrt wieder losging, hatten sie noch genügend Zeit.
»Schade, dann kann man nichts machen. Aber vielleicht sehen wir uns ja noch am Abend? Papa kocht heute was Französisches, und du bist natürlich wie immer herzlich eingeladen.«
»Tut mir leid, aber ich könnte mich da nicht wirklich richtig entspannen«, kam seine Antwort. »Ich muss mich noch ein wenig auf die Fortbildung vorbereiten. Es handelt sich hierbei, wie du ja weißt, nicht um einen Häkelkurs für Hausfrauen.«
Isabella zog scharf die Luft ein und spürte, wie ihre gute Laune zu schwinden begann. Hausfrauen-Häkelkurs! Sein Hochmut leuchtete wieder einmal durch, eine seiner wenigen schlechten Eigenschaften.
Erneut bedauerte sie, dass er immer noch in Saló lebte. Wohnte er hier in Riva, könnten sie sich viel öfter sehen. Anfangs hatte sie angenommen, er sei bereit zu einem Umzug, aber nach und nach hatte sie ihre Nachfragen diesbezüglich aufgegeben, denn er zeigte keinerlei Lust dazu. Als Ausrede gab er an, dass es von Riva aus noch weiter nach Genua sei, wo sein Schiff ablegte. Noch trauriger allerdings war die Tatsache, dass er sie umgekehrt nicht einmal bat, zu ihm zu ziehen. Außerdem war es höchstens für sie zu weit, denn sie fuhr ihn schließlich immer mit ihrem Auto nach Genua, damit er sich die Parkgebühren für drei Monate sparen konnte.
»Schade«, erwiderte sie munterer als ihr zumute war. »Da kann man halt nix machen. Man sieht sich.« Mit diesen Worten legte sie auf, ohne seine Antwort abzuwarten. Man sah sich frühestens in zwei Wochen wieder. Es wurde Zeit, dass sie mit ihrem Freund Tacheles redete. Wenn sie ihn nicht so gut kennen würde, könnte man beinahe auf argwöhnische Gedanken kommen. Aber sie vertraute ihm. Frauen oder auch Männer, die zu übermäßiger Eifersucht neigten, waren ihr zuwider.
Trotzig entschied sie, an diesem strahlenden Tag nicht zu Hause herumzusitzen, sondern ihn zu einer ihrer beliebtesten Mountainbike-Touren zu nutzen. Dazu ihre Freundin anzurufen, die sie normalerweise begleitete, kam nicht infrage. Antonia, die Krankenschwester, hatte Nachtdienst gehabt und verdiente ihre Ruhe.
Sie zog ihre Sportsachen an, dann ging sie hinunter. Zum Haushalt gehörten außer ihr: Thibault, ihr Vater, und Chiara, ihre Mutter, sowie Paula und Elisa, die sich seit Jahrzehnten als helfende Hände in Haus und Garten nützlich machten.
Ein zarter Duft aus Kaffee und gebratenem Speck strömte ihr entgegen, doch als sie die Küchentür öffnete, merkte sie, dass alle ausgeflogen waren. Am Sonntag ging man in die Kirche, sie hatte nicht daran gedacht. Also frühstückte sie ohne Eile, dann schrieb sie einen Zettel, um ihrer Mutter Bescheid zu geben, dass sie erst nach Mittag zurück sein würde, sie möge ihr aber etwas Suppe übrig lassen. Sonntags kochte ihre Mutter zum Pranzo oft nur eine leichte Suppe. Dafür gab es am Abend zum Cena wie stets und nicht nur an Sonn- und Feiertagen ein Drei-Gänge-Menü, das ihr Vater heute zubereitete, damit Elisa den Sonntag frei hatte. Auch montags durfte Elisa sich nicht an den Herd stellen, dennoch musste niemand verhungern, denn sonntags wurde so reichlich gekocht, dass man von den Resten auch noch satt wurde.
Die Küche lag im äußersten Westflügel des Erdgeschosses, daneben gab es Speisezimmer, Wohnzimmer und Bibliothek, die man, wie alle anderen Räume auch, von einem schmalen Flur aus betrat, der sich in der gesamten Länge davor erstreckte. Im Westteil befand sich das große Gästezimmer mit integriertem Bad und eigenem Ausgang, welches früher Elena, Chiaras Schwester, mit ihrem amerikanischen Mann Lennard bewohnt hatte. Nach deren Tod wurde es von Elenas Stiefsohn John in Anspruch genommen.
Elena hatte Lennard bei einem Kurzbesuch in den USA kennengelernt und ihn ein Jahr darauf geheiratet. Ihre Besuche mit ihm waren die reine Freude gewesen, was man von Johns Erscheinen nicht behaupten konnte. Das obere Gästezimmer in Beschlag zu nehmen, davon hatte er zu Isabellas Erleichterung von vornherein Abstand genommen. Der Gedanke, er wäre ihr möglicherweise im Flur im Morgenmantel begegnet, verursachte ihr noch heute Brechreiz. Außerdem war ihm dadurch ein ungestörtes Kommen und Gehen gewährt, ein Privileg, das er in dem oberen Zimmer nicht genossen hätte.
Isabella stellte das Geschirr in den Geschirrspüler und räumte alles andere in den Kühlschrank. Dann lief sie, wieder guter Laune, hinaus.
Wie immer ging ein frischer Wind, einer der zahlreichen Gardasee-Winde, von denen es fünfzehn verschiedene gibt. Jeder von ihnen hat seine charakteristische Richtung, Tages- und Jahreszeit: So bläst Sover um Mitternacht aus dem Norden, Südwind Ander am Vormittag, die frische Ora pünktlich ab zwölf Uhr mittags und Vinezza, aus Venedig kommend, jagt feucht und kalt im Frühjahr über die empfindlichen jungen Pflanzen, ganz zu schweigen von den Herbststürmen, die man hier eigentlich nicht vermuten würde.
Noch blähte Sover die Segel, um später am Nachmittag der Brise Ora das Feld zu überlassen. Verlass auf diese Surf- und Segelwinde, so wusste Isabella, war allerdings nur hier im Norden, wo der Gardasee einem tief in die Berge eingeschnittenen Fjord glich. Dem östlich gelegenen Torbole hatten diese Winde einen starken Boom beschert und die Region in eine der beliebtesten Surf-Reviere Europas verwandelt. Surfen war allerdings nicht ihre Leidenschaft, Isabella liebte das Mountainbiken. Gut gelaunt holte sie ihr Mountainbike aus dem alten Schuppen, der, seit jeher großartig Remise genannt, mittlerweile auch kurz vor dem Zerfall stand und schon seit Längerem einem neuen Platz machen sollte. Aber alle außer Paula waren keine Heimwerker, und bisher hatte das Geld für einen Neubau noch nicht gereicht.
Die Luft war frisch, perfekt für eine ihrer liebsten Touren auf der alten Ponalestraße. Diese Tour bot für sie keine Schwierigkeiten und ließ das Herz höher schlagen auf jedem der fünfundzwanzig Kilometer, die es zu bewältigen galt.
Der in Richtung Limone verlaufende Radweg führte parallel an der Autostraße Gardesana Occidentale entlang und zweigte dann etwa zweihundertfünfzig Meter hinter dem Ortsschild von Riva kurz vor einem Tunnel in die alte Ponalestraße ab, die, 1851 fertiggestellt, mühsam aus den senkrechten Felswänden gefräst worden war. Sie verband seitdem das abgeschiedene Ledrotal mit Riva, und die Wanderer und Mountainbiker durften sie zehn Jahre nach ihrer Sperrung für den Autoverkehr und gleichzeitigem zähem Protest der Bevölkerung, seit ein paar Jahren wieder nutzen. Bei einem Gut teilte sich vor ihr die Straße, und schließlich erreichte Isabella die Erhebung Bocca Larici, den Höhepunkt der Radtour.
Ihre Lungen füllten sich wie immer an diesem Punkt mit neuer Lebenskraft. Isabellas Herz klopfte nicht nur vor Anstrengung, sondern vor allem auch vor Entzücken angesichts des überwältigenden Panoramas ringsum, den schroffen Bergen, den Hügeln in der Ferne und nicht zuletzt dem See zu ihren Füßen. Der See war in der Tat der blaueste in ganz Italien. Schlängelte sich bei Riva noch ein hellgrün und türkiser Streifen am Ufer entlang, das dann unerwartet steil in die Tiefe abfiel, so leuchtete der Gardasee hier in reinem Blau, durchsichtig bis weit hinunter und klar wie die Morgenluft. Aber so friedlich er heute auch schien, so war der lago vivo im Innern lebendig, dank des verzweigten Höhlen- und Röhrensystems, in dem das Wasser an den Uferbergen unheimlich aus dem See heraus- und wieder zurückströmte.
Wie schade, dass Emanuele jetzt nicht mit ihr gemeinsam diese Schönheit erlebte. Ohnehin kein Freund von Mountainbike-Touren, erwies er sich entgegen seinen Erzählungen zu Beginn ihres Kennenlernens im Laufe der Zeit als Sportmuffel. Dafür besaß er andere Qualitäten, urteilte sie liebevoll.
Welche?, hinterfragte ihre innere Stimme, wie so oft in der letzten Zeit. Nun ja, er war … nett, manchmal bezaubernd, auf jeden Fall anziehend. Man konnte sich auf ihn verlassen. Die interessanten Geschichten von seinen Reisen übers Mittelmeer und der manchmal arg verwöhnten Gästeschar hielten nicht nur sie stets aufs Neue gefangen. Das Einzige, das sie neben seinem Hochmut traurig stimmte, waren seine seltenen Aufenthalte in Riva. Aber dies brachte nun einmal sein Beruf als Kapitän auf einem noblen Kreuzfahrtschiff im Mittelmeer mit sich.
Nein, sie bereute nicht ihren unvermittelten Wunsch vor einigen Wochen, sich mit ihm zu verloben. Er hatte sie erhört, wie man an dem Ring mit seinem tiefblauen Aquamarin, eingefasst von kleinen Diamanten, erkennen konnte.
War es bloß eine Kurzschlusshandlung vor dem vierzigsten Geburtstag? Sie neigte nicht zum Brüten, aber der bevorstehende runde Geburtstag bedeutete doch einen gewissen Einschnitt.
Aber nein, beruhigte sie sich, es gab keinen Grund zur Torschlusspanik.
Als sie dreißig wurde, hatte sie keinerlei Gedanken ans Älterwerden verschwendet. Warum auch? Gegenwärtig schreckte sie auch die Vierzig nicht, im Gegenteil. Spätestens mit Vierzig besaßen die meisten, sogar Spätentwickler wie sie, endlich genügend Selbstbewusstsein, ihr wahres Ich zu zeigen und zu leben. Man gestattete sich Albernheiten, ohne rot zu werden, traute sich, ausgefallene, möglicherweise auf andere seltsam wirkende Kleidung anzulegen. Man genehmigte sich die Freiheit, den einen oder anderen Gedanken, der nicht unbedingt populär war, laut herauszuposaunen.
Sie kicherte. Tatsächlich war sie bereits jetzt mit neununddreißig ganz bei sich, kannte sich, respektierte sich. Nur manchmal wäre es schön, wenn ihr Freund öfter den Freundeskreis ersetzen und mit Begeisterung Ausflüge oder heitere Abende mit ihr verbringen würde. Und natürlich heiße Liebesnächte genießen. Aber damit musste sie leben.
Als Nächstes stand eine Veränderung an, die sie erfreute und gleichermaßen erregte: Sie war gezwungen, sich eine neue Arbeit zu suchen, nachdem der Autozulieferer, bei dem sie die letzten Jahre gearbeitet hatte, die Tore hatte schließen müssen. Aber da war sie unbesorgt. Sie sah sich als die vollkommene Assistentin und zwar eine, die sich in der digitalen Welt gut auskannte. Mit ihr wurde jeder IT-Mensch – beinahe – überflüssig. Mit dieser, okay, ein wenig hoch gegriffenen Aussage würde sie auf jeden Fall punkten, wenn sie ihrem zukünftigen Chef darlegte, dass er mit ihr in der glücklichen Lage wäre, sich die Ausgaben für eine solche Koryphäe zu sparen. Sie wusste auch nicht, wieso, aber die Arbeit mit Computern war ihr immer schon leichtgefallen. Außerdem verfügte sie über eine ausgesprochene Sprachbegabung. Dank ihres französischen Vaters Thibault sprach sie neben Italienisch auch perfekt Französisch, dazu natürlich Deutsch, Englisch und leidlich Spanisch. Ja, dachte sie selbstbewusst, sie war für alles gerüstet. Jetzt hieß es nur, die Augen offen zu halten und zuzugreifen, wenn sich die Gelegenheit bot. Seit jeher hatten ihre Eltern sie beschworen, angstfrei in die Zukunft zu schauen. Aus zwei Gründen: Sie hatte Familie und Freunde, die sie liebten. Und dass sie immer ein Dach über dem Kopf haben würde, dafür sorgten ihre Angehörigen und sie nach Kräften.
Das Landgut – vormals eine sogenannte Villa Rustica, also der Mittelpunkt eines landwirtschaftlichen Betriebs, und von ihren Vorfahren Ende des neunzehnten Jahrhunderts erworben – bot ihren Eltern Chiara und Thibault sowie Elisa und Paula ein heimeliges, wenn auch arg renovierungsbedürftiges Zuhause. Die drei Letzteren vermochten Chiara in den Achtzigerjahren, nachdem sie diese in Madonna di Campillo beim Skiurlaub kennengelernt hatten, in letzter Sekunde aus einer Lawine zu retten, und waren ihr danach auf ihre Einladung hin als Logiergäste ins Gutshaus gefolgt.
Die Lage des Hauses auf der unweit von Riva gelegenen Halbinsel mutete unvergleichlich an. Die landwirtschaftlich genutzten Felder hatte man allerdings schon lange nach und nach verkauft. Nur der Park befand sich noch in Familienbesitz. Einzigartig war auch der Anblick, den er im März bot. Dann wurde die Einfahrt zum Haus von einem richtiggehenden Kamelienwald gesäumt. In weiß, rosa und tiefrot hatten die meisten von ihnen eine stattliche Baumgröße erreicht, da sie bereits gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts gepflanzt worden waren und sie in der Regel die milden Winter unbeschadet überstanden. Die Leidenschaft der ersten Gutsherrengeneration für die Kamelien in ihrer Farbenvielfalt hatte sich auf alle Nachkommen übertragen, und so gediehen sie weiter auf das Üppigste. Ihre strahlenden Farben unterstrich in der Mitte des Hofes ein großer runder Brunnen aus schneeweißem Carrara-Marmor. Im Laufe der Jahrzehnte war zudem wilder Wein beidseits der tiefgrün gestrichenen Eingangstür an der gesamten Nordfront des Hauses einschließlich Turm emporgerankt, vor der sich wiederum die prächtigen Magnolien breitmachten.
Dieser Anblick ließ ihren französischen Vater, den ihre Mutter damals außer den beiden Mädchen aus Madonna di Campillo vom Skiurlaub mit heimbrachte, zu dem Ausruf hinreißen: »Mein Gott, das ist ja eine richtige Villa Magnolia.« Von da an hatte man diesen Namen für das ehemalige, bereits damals schon recht heruntergekommene Herrenhaus beibehalten.
Chiaras liebenswerte Gäste – zum damaligen Zeitpunkt alle drei arme Schlucker – waren geblieben und hatten sich prächtig entfalten können im Schutz des geräumigen Gebäudes und der vielfältigen Flora der Gartenanlage sowie der Weitherzigkeit von Chiaras Eltern, die ihnen natürlich bis an ihr Lebensende dankbar waren.
Aus strahlend weißem Stein erbaut, umfasste das Haus drei großzügige Etagen mit je fünf gleichgroßen Zimmern und dem Turm im Ostflügel, den ihr Großvater ihrer romantisch veranlagten Großmutter zum fünften Hochzeitstag gewidmet hatte. Die Glasscheiben der hohen Fenster aus dem sechzehnten Jahrhundert waren alle noch in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten und verzauberten mit einem unvergleichlich sanften Licht.
2
Als Isabella das Gutshaus gegen halb zwei wieder betrat, empfing sie vollkommene Stille. Sie warf einen Blick in die Küche, doch sämtliche Bewohner befanden sich nach dem Pranzo pünktlich um zwölf wie üblich in ihren privaten Räumen zur Siesta. Sie schnitt sich eine Weißbrotscheibe zur Suppe ab, stellte dazu ein großes Glas Leitungswasser auf ein Tablett, klemmte sich die Sonntagszeitung vom Küchentisch unter den Arm und stieg damit die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung, gefolgt von ihrem zehnjährigen Maine-Coon-Kater Barney, einem imposanten Stubentiger mit einem Meter Länge von der Nase bis zur buschigen Schwanzspitze.
Ihre Wohnung befand sich neben den drei von ihren Eltern bewohnten Zimmern im ersten Stock des Ostflügels. Als Erstes betrat man das Schlafzimmer mit dem angegliederten nagelneuen Bad, das sie ganz allein benutzen durfte und das ihr nunmehr ungestörte, stundenlange Wannenbäder ohne genervtes An-die-Tür-Klopfen ihrer Mutter ermöglichte. Dass man durchs Schlafzimmer musste, ehe man ins Wohnzimmer kam, lag daran, dass Isabella natürlich das aparte Turmzimmer zum Aufenthaltsraum bestimmt hatte. Ein Prinzessinnenzimmer, befand sie, hell und mit Rundumblick auf den Lago, ausgestattet mit einer gemütlichen Sitzecke für zwei Personen im kleinen Erker, einer antiken Kommode, auf der sie ständig wechselnde Bilder ausstellte, stets gemeinsam mit einem frischen Blumenstrauß, und ihrem Schreibtisch mit dem PC. Hier gab es einen Kamin, den sie ab Herbst bis zum Frühling gern anstelle der Heizung benutzte, um es sich auf dem Sofa davor bequem zu machen und beim Knistern des Feuers zu entspannen. Natürlich hatten die Altvorderen bereits in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts eine Zentralheizung einbauen lassen, doch die galt es mittlerweile dringend zu erneuern. Auch auf dem kleinen runden Tisch am Erkerfenster stand ein frischer Blumenstrauß – vor allem im Juni bestehend aus Rosen, ihren Lieblingsblumen, die sich im Muster des Sessels wiederholten, und im Winter aus einem Strauß aus Tannengrün oder Koniferen. Der Clou des Zimmers jedoch war die Stiege hinauf auf das Turmdach. Diese Terrasse gehörte ihr ganz allein – ein weiterer Traum.
Nachdem sie sich geduscht hatte, öffnete sie im Schlafzimmer das Fenster und stützte sich einen Moment auf die tiefe Fensterbank. Wie immer bereiteten ihr das rasante Treiben der Surfer und die gemächlicheren Segler größtes Vergnügen. Kein Wunder, dass ihr Vater, ein begnadeter Landschaftsmaler, so oft wie möglich im Garten saß, um die farbenprächtigen Segel auf dem in allen Blautönen funkelnden See zu Papier zu bringen. Erst am Abend, wenn die Surfer sich in der pittoresken Altstadt regenerierten, durften die Kitesurfer auf den See, denn es galt zu vermeiden, dass es zu Kollisionen der mit großer Geschwindigkeit Surfenden kam, wobei das Kitesurfen in Isabellas Augen mehr dem Fliegen glich als dem Gleiten.
Lächelnd lauschte sie einen Moment dem Spiel des Windes, vor allem in den Sommermonaten Musik in ihren Ohren, wenn er sich in den Blättern des Tulpenbaum-Methusalems und der zahlreichen anderen Gehölze verlor, die das Haus vor den Blicken der Touristen auf der Seeseite schützten.
Sie setzte sich an ihren PC und recherchierte nach Arbeitsangeboten, möglichst in ihrer Nähe, denn sie wollte vermeiden, dass sie sich morgens und abends über die in der Saison vollgestopften Uferstraßen quälen musste. Leider konnte sie von hier aus nicht das Boot benutzen. Ein original Rivaboot, der Rolls Royce des Meeres aus den Fünfzigerjahren, war der Stolz der Familie und würde natürlich niemals verkauft werden, auch wenn der Liebhaberpreis für ein gut erhaltenes Rivaboot mehr als eine halbe Million betrug, wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte. Das durchdringend tiefe Geräusch der Riva Aquarama war typisch, ebenso wie die fugenlose, tiefrote Mahagonibeplankung des eleganten Bootskörpers. Es lag vor Limone im Hafen, da der nördliche Teil des Sees für private Motorboote gesperrt war. Sie hatte sich vorgenommen, mit ihrer Vespa zur Arbeit zu fahren, um auch in der Rushhour gut voranzukommen.
Doch heute war ihre Suche im Internet erfolglos. Sie schloss den PC und wandte sich zur Musiktruhe, auf der Barney ein Schläfchen hielt, und legte eine ihrer Lieblings-LPs auf. Sie hielt ein Zündholz an den Holzstoß im Kamin, den Paula wie üblich ab Herbst vorbereitete. Ab Januar war es mit diesem Verwöhnen vorbei, denn dann widmete sich Paula wieder ihrer Winterarbeit als Skilehrerin, bis sie im April erneut nach Riva zurückkehrte.
Eingewickelt in eine farbenfrohe Jacke aus feiner Alpakawolle, kuschelte Isabella sich auf ihr Sofa, um sich nun den Stellenangeboten in der Tageszeitung zu widmen. Dabei wurde sie begleitet von Sonatenklängen des Barockkomponisten Scarlatti, die aus der Musiktruhe glockenhell erschallten. Um diese elegante, aus rötlichem Palisander gefertigte Musiktruhe, die 1963 dank ihres damaligen modernen Designs in London beträchtliches Aufsehen erregt hatte, beneidete ihr Vater sie sehr. Mit seiner schlichten Kastenform passte dieses alte Designerstück in jede Umgebung. Es barg nicht nur ein mittlerweile ausgetauschtes, mit moderner Technik versehenes Radio, sondern vor allem einen Plattenspieler nebst Schublade für die Schallplatten. Ihr Chef hatte ihr das edle Teil zum Abschied geschenkt, nachdem sie ihm einmal verraten hatte, dass sie zwar fortschrittliche Technik liebte, beim Musikhören aber ausnahmsweise immer noch den altmodischen Plattenspieler gegenüber CD-Playern bevorzuge. Weihnachten, so hatte sie beschlossen, würde sie das Tonmöbel ihrem Vater weitergeben, denn der Umfang seiner Plattensammlung übertraf ihre noch bei Weitem, und er besaß ebenso wie sie vorher nur einen einfachen Plattenspieler, während das Palisanderholz einen herrlichen Klang erzeugte.
Ihre Füße ruhten geschützt von Chiaras handgestrickten, kratzigen Socken auf der bequemen gepolsterten Bank davor und animierten Barney, der sein Schläfchen beendet hatte, sogleich zärtlich an der Wolle zu zupfen, wie er es liebte, weswegen Chiara auch längst von teuren flauschwollenen Abstand genommen hatte und nur noch robusteren Exemplaren vertraute.
Diese Bank war für alles Mögliche gut: Zum Absetzen eines Tee-Tabletts, zum Deponieren diverser Landhaus-Zeitschriften und eben auch zum Ablegen der Füße neben dem liebevollen Barney, der diese Bank zu seinem zweitliebsten Möbel erkoren hatte, neben dem Plätzchen unter dem altertümlichen Küchenherd, der mit Holz betrieben wurde. Hier ruhte er schnurrend, wenn sich Isabella in das Zimmer zurückzog – sofern er nicht irgendwo in den zahllosen Räumen und Gängen des Hauses schlicht umfiel, um an Ort und Stelle eines seiner zahlreichen Schläfchen abzuhalten. Das Ganze in manchmal grotesken Verwinkelungen, die ihnen noch heute oft ein Lächeln hervorriefen. Barney war eine reine Hauskatze, wozu alle sich nur beglückwünschten. Nie hatte er scheinbar den Wunsch verspürt, die Welt da draußen zu entdecken. Gut so.
Wie gewöhnlich hatte Isabella die bejahrten Vorhänge aus grünem Damast, der immer noch einen wunderbaren Schimmer aufwies, nicht zugezogen – unnötig bei ihrem ohnehin nicht einsehbaren Zimmer. Ihr bot sich von hier aus ein überwältigender Blick auf den Park mit seinem seltenen, teilweise monumentalen Baumbestand. Ganz besonders zogen der beinahe vierzig Meter hohe Tulpenbaum, der auf seinem meterhohen halbkugeligen Fundament aus Wurzelwerk Halt fand, sowie die Libanon-Zeder, beide die ältesten Veteranen im Park, immer wieder die Aufmerksamkeit der Besucher von der Seeseite auf sich.
Trotz des frühen, hellen Nachmittags warf die altmodische Stehlampe bereits ihr warmes, orangefarbenes Licht auf Isabellas Sofaplatz, wobei fast alles in diesem Gutshaus alt und somit altmodisch war. Von oben vernahm sie das vertraute Knarren der Holzböden. Man war aufgewacht, dachte sie, denn die Siesta war ein Ritual, dem sich alle Bewohner unterzogen – sofern sie nicht außer Haus arbeiteten. In den oberen Zimmern wohnten Elisa, sechzig Jahre alt, die als Hauswirtschafterin fungierte, und Paula, zweiundsechzig, die als Gärtnerin Thibault zur Hand ging und im Winter immer noch als Skilehrerin in Madonna di Campillo arbeitete. Sie als Angestellte des Hauses zu bezeichnen wäre so, als titulierte man die Hofdame der Queen ein Dienstmädchen. Sie lebten in der Villa seit dem legendären fünften April 1980, als Chiara entschieden hatte, dass erstens der Franzose Thibault der Mann ihres Lebens werden würde und zweitens die beiden Frauen, die das Schicksal bereits arg gebeutelt hatte, bei ihr das riesige Haus bewohnen durften. Chiara und die Großeltern kannten beide Frauen schon zwei Jahre, da sie stets im Winter nach Madonna reisten und bei Paula immer privaten Skiunterricht genossen hatten, während Elisa einen kleinen Andenkenladen betrieb. Paula hatte nach zweijähriger Ehe erfahren müssen, dass ihr Mann sie nicht nur vor der Ehe, sondern auch während dieser schamlos mehrmals betrogen hatte. Und Elisa hatte feststellen müssen, dass ihr Freund sich mitsamt ihren Einnahmen aus der Saison verdünnisiert hatte, und hatte sich von diesem seelischen und finanziellen Schock noch nicht erholt.
Nach dem Lawinenunglück wohnten sie also in Riva. Zwar bezogen Paula und Elisa ein Gehalt, doch war ihnen zudem auf Lebenszeit ein Wohnrecht zugestanden worden. Kost und Logis waren frei, versteht sich. Im Laufe der Jahrzehnte hatte sich dieser Entschluss Chiaras, die sich seit ihrer Geburt als willensstarke Persönlichkeit stets durchzusetzen im Stande zeigte, als eine wahrhaft göttliche Entscheidung herausgestellt, wie alle uneingeschränkt zustimmten. Allerdings musste man sagen, dass ihre Eltern damals die drei Freunde ohnehin mit offenen Armen aufgenommen hatten.
Oben unter dem Dach gab es neben den zwei Zimmern der Frauen, ihrem gemeinsamen Wohnzimmer und dem Bad noch ein Gästezimmer, das im Laufe der Jahre gern und oft genutzt worden war. Mittlerweile diente es jedoch als Abstellkammer, seitdem es durch das Dach bei Regen so stark tropfte, dass es zu Paulas und Elisas Arbeiten gehörte, die Eimer zu inspizieren und bei Bedarf zu leeren. Natürlich hatte die Reparatur des Daches höchste Priorität.
Ja, die Hauswirtschafterin und die Gärtnerin waren in der Tat nicht nur Freunde, sondern geliebte Familienmitglieder. Ihre Arbeit beinhaltete nicht nur die hauswirtschaftlichen Belange Elisas und gärtnerischen Aufgaben Paulas, sondern auch das Reparieren des Oldtimers, einen Peugeot von 1990.
Paula besaß umfassende Kenntnisse von eigentlich allem, befand Chiara, die diese Fähigkeiten außerordentlich schätzte, denn wie sie selbst offen bekannte, war sie zu nichts anderem nütze, als eine Tochter in die Welt zu setzen und ihren Mann bei Laune zu halten. Wogegen man nur halbherzig Einspruch einlegte. Es war Chiara, die in Fällen von Meinungsverschiedenheiten als sanfte Diplomatin auftrat, wobei diese Sanftheit über ihre Willensstärke hinwegtäuschte, und die zu allen Nachbarn einen freundschaftlichen Umgang pflegte, der jährlich in einem gemütlichen Weinfest gipfelte, wenn sich die Touristen vom Acker gemacht hatten. Da sie das Herz auf der Zunge trug, bestand auch kein Grund zu Neid, denn jeder wusste um den maroden Zustand des Hauses und um die Kosten, die eine Totalrenovierung mit sich brachte. Außerdem war jedem klar, dass Thibault zwar wunderschöne Bilder malte, er jedoch allein in den Sommermonaten das Geld fürs ganze Jahr verdienen musste, um mit der Familie den Winter zu überstehen, in dem die Gäste nur noch vereinzelt eintrafen.
Der Ostflügel war nicht nur wegen des Turms ein wenig eigenwillig verbaut. Isabellas Großmutter hatte zu ihrer Zeit nur das unterste Turmzimmer für sich beansprucht und auf eine Treppe hinauf zu den zwei anderen Räumen verzichtet, da sie nicht schwindelfrei war und somit die Zimmer nicht nutzen würde. Dieser Turm war an drei Wohneinheiten angebaut worden, an die Erdgeschosswohnung mit separatem Eingang und die weiteren zwei Etagen mit je einem Zimmer.
Bei dem Gästezimmer, das dringend für Familienbesuche benötigt wurde, war rasches Handeln vonnöten, denn mittlerweile war es selbst Familienmitgliedern nicht mehr zuzumuten, in diesem Zimmer der Gefahr einer Sturzflut ausgesetzt zu sein. Und obwohl Paula und Elisa nicht klagten, war zu vermuten, dass es auch bei ihnen ab und an hereinregnete. Mithin war das komplette Dach zu erneuern – eine kostspielige Angelegenheit.
Das Bad, das man im Sommer für Isabella hatte installieren lassen, war ein zauberhafter, trotz seiner Größe sehr feminin eingerichteter Raum. Mit seinem Kristalllüster, dessen Licht im Kupfer der Badewanne schimmerte – ihr einziger Luxus, dessen Preis sie ihren Eltern in Anbetracht der kostspieligen weiteren Renovierung verschwiegen hatte –, animierte es den Badenden zum Träumen. Mit seiner bequemen Liege, die unter dem Fenster zum Garten zum Ruhen einlud, war es wie gemacht, um bei der Musik aus dem modernen tragbaren Player, den Emanuele ihr beim letzten Weihnachtsfest geschenkt hatte, nach einem anstrengenden Tag zu entspannen. Außerdem stand hier im Trockenen – welch angenehmes Attribut – ein Kleiderschrank, in dem vier weitere Gäste hätten übernachten können und der nicht nur die Handtücher und die Bettwäsche aus Jahrzehnten beherbergte, sondern auch Isabellas »begehbare« Garderobe geworden war.
Neben ihrer Wohnung lagen die Räume von Chiara und Thibault – das Bad und ihr Schlafzimmer, in dem er bei schlechtem Wetter am Schreibtisch unter dem Fenster seine Miniaturen vom Gutshaus und dem Garten zu Papier brachte.
Der größte Luxus des Hauses war neben der Anschaffung eines supermodernen Herds der Internetanschluss, den Isabella durchgesetzt hatte – wenn auch unter Protest ihrer Eltern. Sie hatte sie mit Mühe dazu gebracht, einfache Handys zu benutzen. Smartphones lehnten sie kategorisch ab, ebenso wie Paula und Elisa. »Ich will doch nicht Probleme mit meiner Halswirbelsäule bekommen, wenn ich wie die anderen ständig mit gesenktem Blick meines Weges gehe«, hatte Thibault gemeint, worauf Chiara ihm heftig nickend zustimmte.
Dies waren also zwingend nötige Umbaumaßnahmen gewesen, die allerdings auch den Rest des Ersparten gekostet hatten. Für weitere bitter nötige Sanierungen, wie dem Dach, konnten sie nicht bis zur nächsten Sommersaison warten, wenn ihr Vater seine Bilder veräußerte. Es musste jetzt Geld ins Haus. Und zwar viel Geld, denn das Gutshaus – sie liebte es wie eine Mutter ihr Kind – verfiel still, allerdings mit Stil. Thibault und Chiara gaben sich alle Mühe, es für die Nachwelt zu erhalten. Wenn es auch in ihrer Familie keine Nachfahren mehr gab, weder durch Isabella noch möglicherweise durch ihren Cousin John, der, so sinnierte sie, es auch nie zu solchen bringen würde. Sie erinnerte sich daran, wie er in seinen zum Glück seltenen Ferienaufenthalten bei ihnen ihre kleine Freundin gequält hatte, die wegen einer Kinderlähmung leicht hinkte und bei den schnellen Spielen im Park nicht immer hatte mithalten können.
Von ihrem gemeinsamen Einkommen vermochten sie bisher auch gut als fleißige Selbstversorger zu leben. Dem Park zwackten sie eintausendfünfhundert mit einer stabilen Mauer umsäumte Quadratmeter Land für ihren Bauerngarten ab, dessen Ertrag den größten Teil ihrer Nahrungsmittel abdeckte. Diese Abtrennung schuf ein für das Wachstum außerordentlich förderliches Mikroklima, wie sie festgestellt hatten.
3
Isabella nahm von der köstlichen Schokolade mit Nuss, während ihre Augen die wenigen Stellenangebote überflogen. Im Februar wurde sie vierzig und war somit noch nicht alt, aber auch nicht mehr ganz jung. Momentan gab es für sie in jedem Büro die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten zu beweisen, und so war sie nicht gerade von Existenzängsten geplagt. Zu unnötigen Ängsten neigte sie ohnehin nicht. Schließlich lebten sie, wenn auch nicht in Saus und Braus, so auch nicht in nackter Armut, obwohl sie immer gezwungen gewesen waren, sich einzuschränken. Natürlich gab es in dem alten Gutshof, der er einmal gewesen war, einige Antiquitäten. Die jedoch waren alle in die Jahre gekommen und nicht sonderlich wertvoll. Wahrscheinlich war das Gemälde im Flur noch das Wertvollste, was sie besaßen: Le due madri, von Giovanni Segantini. Es zeigte eine Mutter mit Kind, gefolgt von einem Schaf und dessen Lamm, das besonders Chiara sehr am Herzen lag. Nun, dieses würde nur in der Not in fremde Hände fallen, ebenso wie ihr Rivaboot. Sie, Isabella, war eine Frau der Tat und würde alles daransetzen, spätestens im Januar eine neue Stelle anzutreten. Natürlich nur eine Festanstellung und die zu einem anständigen Honorar. Sie sah nicht ein, dass sie mit einer halben Stelle die gleiche Arbeit verrichten sollte wie eine Ganztagskraft, und dies dann zum halben Gehalt. Sie war doch nicht blöd! Blöd war sie vielleicht nur in der Liebe.